Anatomie, Anatomie in vivo, Biomechanik




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Fakultät für Therapiewissenschaften, SRH Hochschule Heidelberg, 69123 Heidelberg, Deutschland

 



Zusammenfassung

Dieses Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die wichtigsten anatomischen Strukturen der oberen Extremität. Die Anatomie in vivo beschreibt, wie die Körperstrukturen zu finden und zu tasten sind, denn das sichere Ertasten befähigt den Therapeuten zu deren genaueren Beurteilung und Behandlung. Die Palpation beginnt man grundsätzlich mit den knöchernen Referenzpunkten, dann geht man zu den passiven und aktiven Weichteilstrukturen über. Der Sichtbefund hilft in vielen Fällen schon, relevante zu palpierende Strukturen zu erkennen. Grundsätzlich wird die Palpation mit wenig Druck ausgeführt, vor allem dann, wenn die zu palpierenden Strukturen akut verletzt oder sehr irritierbar sind; in diesem Fall sollte zunächst eine Palpation auf Wärme und Schwellung erfolgen, um einen ersten Eindruck zu bekommen.


Dieses Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die wichtigsten anatomischen Strukturen der oberen Extremität. Die Anatomie in vivo beschreibt, wie die Körperstrukturen zu finden und zu tasten sind, denn das sichere Ertasten befähigt den Therapeuten zu deren genaueren Beurteilung und Behandlung.

Die Palpation beginnt man grundsätzlich mit den knöchernen Referenzpunkten, dann geht man zu den passiven und aktiven Weichteilstrukturen über. Der Sichtbefund hilft in vielen Fällen schon, relevante zu palpierende Strukturen zu erkennen. Grundsätzlich wird die Palpation mit wenig Druck ausgeführt, vor allem dann, wenn die zu palpierenden Strukturen akut verletzt oder sehr irritierbar sind; in diesem Fall sollte zunächst eine Palpation auf Wärme und Schwellung erfolgen, um einen ersten Eindruck zu bekommen. Der Therapeut tastet senkrecht zur Struktur und bewegt sich innerhalb der möglichen Hautverschieblichkeit, die von Person zu Person sehr unterschiedlich sein kann. In manchen Fällen können die Strukturen unter Zuhilfenahme von passiven Bewegungen oder isometrischer Anspannung leichter ertastet werden; auch können die wichtigsten Punkte mit einem Hautstift markiert werden, um die Strukturen nicht durch häufiges Suchen zu überreizen. In den Abbildungen sind zur Orientierung die zu palpierenden Stellen nummeriert.

Im letzten Abschnitt werden diejenigen biomechanischen Grundlagen vermittelt, die zum Verständnis dieses Buchs notwendig sind. Für eine detaillierte anatomische oder biomechanische Betrachtung wird auf entsprechende Fachliteratur verwiesen (Rockwood u. Matsen 1998; Tillmann 2009).


1.1 Schulterkomplex


Der Schulterkomplex setzt sich aus 2 funktionell eng miteinander verbundenen Systemen zusammen,





  • dem Schultergürtel und


  • dem Glenohumeralgelenk (GHG).


1.1.1 Schultergürtel


Der Schultergürtel ist eine ringartige Konstruktion, bestehend aus





  • den beiden Schlüsselbeinen (Claviculae),


  • dem Schulterblatt (Scapula),


  • dem Brustbein (Sternum) sowie


  • deren Verbindungen zueinander.

Die beiden Sternoklavikulargelenke (SCG) – die Gelenke zwischen Sternum und den beiden Klavikulae – sind die einzigen artikulären Verbindungen zum Rumpf. Das Akromioklavikulargelenk (ACG) verbindet das Schulterblatt mit der Extremitas acromialis der Klavikula. Das Schulterblatt liegt dem Thorax auf und wird vorwiegend muskulär geführt und stabilisiert. Diese Verbindung wird auch als skapulothorakale Gleitfläche oder skapulothorakales Nebengelenk bezeichnet.


Sternoklavikulargelenk (SCG)


Das SCG ist ein sattelförmiges Gelenk: Die Incisura clavicularis sterni artikuliert mit der Facies articularis sternalis claviculae. Das Gelenk ist meist leicht inkongruent, nur die untere Hälfte der Klavikula artikuliert mit dem Sternum (◘ Abb. 1.1).


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Abb. 1.1
Sternoklavikulargelenk (SCG) mit Gelenkbändern (mod. nach Tillmann 2009)


Kapsel-Band-Apparat

Das Gelenk ist von einer weiten, dickwandigen und festen Gelenkkapsel umgeben, die von den Ligg. sternoclaviculare anterius und posterius , dem Lig. costoclaviculare und dem Lig. interclaviculare verstärkt wird. Innerhalb der Gelenkhöhle liegt ein faserknorpeliger Discus articularis, der mit der Kapsel verwachsen ist und die Gelenkhöhle vollständig oder unvollständig unterteilt. Diese Strukturen hemmen die Schultergürtelbewegungen im SCG (Spencer et al. 2002) (◘ Tab. 1.1).



Tab. 1.1
Hemmung der SCG-Bewegungen durch Kapsel-Band-Strukturen



















































Bewegung

Ausmaß

Hemmung durch

Klavikula

Elevation

Ca. 40°

M. subclavius und Lig. costoclaviculare

Konvex

Depression

Ca. 10°

Kontakt zwischen 1. Rippe und Klavikula, Lig.interclaviculare

Konvex

Protraktion

Ca. 30°

Ligg. costoclaviculare und sternoclaviculare posterius

Konkav

Retraktion

Ca. 5°

Ligg. costoclaviculare und sternoclaviculare anterius

Konkav

Rotation

Ca. 50°

Kapsel und Diskus
 

Anteriore Translation
 
Posteriore Kapsel, dann auch die ventrale Kapsel
 

Posteriore Translation
 
Posteriore Kapsel
 

Die ersten 4 Bewegungen werden zusätzlich durch die Diskuskompression gehemmt


Akromioklavikulargelenk (ACG)


Das ACG ist ein planes Gelenk. Die Facies articularis acromialis der Extremitas acromialis artikuliert mit der Facies articularis clavicularis (◘ Abb. 1.2).


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Abb. 1.2
Akromioklavikulargelenk (ACG) mit Gelenkbändern und Cavitas glenoidalis mit Labrum glenoidale (mod. nach Tillmann 2009)


Kapsel-Band-Apparat

Die Gelenkkapsel ist relativ geräumig und inferior am dünnsten; sie wird verstärkt durch die Ligg. acromioclaviculare superius et inferius , die vor allem für die anteroposteriore Stabilität im ACG verantwortlich sind (Fukuda 1986). Die Fasern des superioren Bands sind mit den Fasern des M. trapezius und des M. deltoideus verwoben. Diese beiden Muskeln unterstützen das Band und tragen daher ebenfalls zur Stabilität des ACG bei.

Das Lig. coracoclaviculare setzt sich zusammen aus den Ligg. conoideum und trapezoideum, die von der Klavikula zum Proc. coracoideus ziehen und überwiegend die Stabilität in kranio-kaudale Richtung gewährleisten (Renfree u. Wright 2003).


Skapula


Die Skapula liegt dem Thorax auf und bildet mit der Frontalebene einen Winkel von ca. 30°, wodurch das Glenoid eine entsprechende Ausrichtung im Raum erfährt. Die Fossae supra- und infraspinata bilden das Ursprungsgebiet für die Mm. supra- und infraspinatus. Der N. suprascapularis , der diese beiden Muskeln versorgt, kann bei wiederholter starker Protraktion im Skapulabereich komprimiert werden und somit zu einer Schwäche der beiden Muskeln führen. Von der ventralen Skapulafläche entspringt der M. subscapularis.


Cavitas glenoidalis und Labrum glenoidale

Das Glenoid hat die Form eines umgedrehten Kommas, und seine Gelenkfläche ist nur leicht konkav. Es ist ca. 35 mm hoch, 25 mm breit und 9 mm tief. Das Glenoid steht gegenüber der Skapulaebene um 7–8° retrovertiert; sein unterer Rand ragt ca. 15° nach vorne, wodurch es der inferioren Translation des Humeruskopfes entgegenwirkt (◘ Abb. 1.2).

Das Labrum glenoidale besteht hauptsächlich aus dichtem Bindegewebe und Faserknorpel und hat im Querschnitt eine dreieckige Form. Der äußere Rand ist wie bei den Menisken im Kniegelenk durchblutet und innerviert. Es bildet den Ansatz für den langen Kopf des M. biceps brachii, die glenohumerale Kapsel sowie die glenohumeralen Bänder. Das Labrum glenoidale vergrößert die Fläche und Konkavität des Glenoids und verbessert somit die Stabilität; weiterhin dämpft es die Kompressionskräfte im Gelenk (◘ Abb. 1.3).


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Abb. 1.3
Horizontalschnitt durch Schultergelenkpfanne und Labrum glenoidale. 1 Labrum glenoidale, 2 Cavitas glenoidalis, 3 Skapula


Schultergürtelstabilisierende und -führende Muskulatur


Die Muskeln, die den Schultergürtel stabilisieren und führen, sind





  • der M. serratus anterior mit seinen 3 Anteilen,


  • der M. trapezius mit seinen 3 Anteilen,


  • der M. levator scapulae,


  • die Mm. rhomboidei und


  • der M. pectoralis minor.

Diese Muskeln koordinieren die Position der Skapula während der Armbewegungen, sie sind dafür verantwortlich, dass das Schulterblatt eine stabile Basis für das Schultergelenk bildet (◘ Abb. 1.4).


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Abb. 1.4
Schultergürtelstabilisierende und -führende Muskulatur (mod. nach Tillmann 2009)


1.1.2 Glenohumeralgelenk (GHG)


Das Caput humeri , das zu ca. zu 1/3 mit Knorpel überzogen ist, artikuliert mit der Cavitas glenoidalis und bildet mit dieser das Glenohumeralgelenk (◘ Abb. 1.5).


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Abb. 1.5
Glenohumeralgelenk (GHG). 1 Akromion, 2 Klavikula, 3 Proc. coracoideus, 4 Fossa glenoidalis, 5 Labrum glenoidale, 6 Gelenkkapsel, 7 Lig. glenohumerale anterior superior, 8 Lig. glenohumerale anterior mediale, 9 Lig. glenohumerale anterior inferior mit 10 Pars anterior und 11 Pars posterior, 12 Sehne des M. biceps brachii, 13 M. subscapularis, 14 M. supraspinatus, 15 M. infraspinatus, 16 M. teres minor


Kapsel-Band-Apparat


Die Capsula articularis ist sehr geräumig und vor allem verantwortlich für die Bewegungssteuerung. Sie hat ihren Ursprung am Labrum glenoidale und ihren Ansatz am proximalen Humerusschaft. Die Bänder sind insgesamt dünn und schwach, sie verlaufen zum größten Teil innerhalb der Gelenkkapsel und können nur eingeschränkt zur passiven Stabilität des Gelenks beitragen (◘ Abb. 1.5).

Die Bänder des Glenohumeralgelenks und deren Funktion sind in ◘ Tab. 1.2 zusammengefasst.



Tab. 1.2
Bänder des Glenohumeralgelenks

















































Ligament

Ursprung

Ansatz

Funktion

Lig. coracoacromiale

Proc. coracoideus

Akromion

– Bildet mit dem Akromion und dem ACG das Dach des Schultergelenks

Lig. coracohumerale

Basis des Proc. coracoideus

Tuberculum majus

– Verstärkt die Kapsel

– Liegt im Rotatorenintervall; der M. supraspinatus ist mit dem Ligament verbunden und spannt darüber die Kapsel

– Maximale Spannung bei herabhängendem Arm und in 45° ABD/AR

Lig. transversum humeri

Tuberculum majus

Tuberculum minus

– Fixiert die lange Bizepssehne im Sulcus intertubercularis zusammen mit dem Lig. coracohumerale und dem M. subscapularis

Lig. glenohumerale anterior superior

Labrum glenoidale

Fovea capitis

– Stabilisiert den hängenden Arm mit dem Lig. coracohumerale und der Rotatorenmanschette

– Hemmt mit dem M. subscapularis die AR bei 0–30° ABD

Lig. glenohumerale anterior mediale

Labrum glenoidale, Collum scapulae

Medial des Tuberculum minus

– Fehlt in ca. 30 %; dadurch verbindet sich das Foramen von Weidbrecht mit dem Foramen von Rouvière

– Maximale Spannung bei 30° ABD/AR

Lig. glenohumerale anterior inferior (anteriores Band) (O’Brien et al. 1990,1995)

Labrum glenoidale, Glenoid

Collum chirurgicum humeri, Tuberculum minus

– Wichtigster ventraler Schulterstabilisator bei 90° ABD/AR

– IR entspannt das Band

Lig. glenohumerale posterior inferior (posteriores Band)

Labrum glenoidale, Glenoid

Collum anatomicum

– Wichtigster dorsaler Schulterstabilisator bei 90° ABD/IR

– AR entspannt das Band


Bursae


Die Bursa subacromialis (-subdeltoidea), die zwischen Akromion/ACG und Rotatorenmanschette liegt, ist klinisch die wichtigste Bursa. Sie ist maßgeblich am klinischen Bild des Schulterimpingements beteiligt. Weitere Schleimbeutel existieren zwischen der Subskapularissehne und dem Skapulahals (Bursa subtendinea subscapularis) und in seltenen Fällen zwischen der Infraspinatussehne und der Kapsel (Bursa infraspinatus).


Muskulatur des Schultergelenks


Außer im inferioren Teil wird die Kapsel von den Muskeln der Rotatorenmanschette verstärkt, deren Sehnen in die Kapsel einstrahlen (◘ Abb. 1.5).

Die Muskeln des Glenohumeralgelenks können in 2 Systeme eingeteilt werden, in das Gelenk bewegende und zentrierende Muskeln (▶ Übersicht 1.1, ◘ Abb. 1.6).


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Abb. 1.6a–c
Armmuskeln. a, b Gelenkbewegendes System, gelenkzentrierendes System


Übersicht 1.1 Einteilung der Muskeln des Glenohumeralgelenks

Überwiegend gelenkbewegendes System (◘ Abb. 1.6a, b)





  • M. latissimus dorsi


  • M. teres major


  • M. pectoralis major


  • M. deltoideus


  • M. coracobrachialis


  • M. biceps brachii


  • M. triceps brachii

Überwiegend gelenkzentrierendes System (◘ Abb. 1.6c)





  • M. subscapularis


  • M. supraspinatus


  • M. infraspinatus


  • M. teres minor


  • M. biceps brachii

Bei Bewegungen im Schultergelenk bewirkt das gelenkzentrierende System zunächst eine Fixation des Humeruskopfes in der Gelenkpfanne, bevor dann über das bewegende System die Bewegung erfolgt. Während der Bewegung ist das gelenkzentrierende System weiterhin verantwortlich, dass der Humeruskopf in der Pfanne zentriert bleibt. Diese Fähigkeit stellt die Schlüsselrolle für die Funktion des Schultergelenks dar.


1.1.3 Anatomie in vivo der Schulter


Man beginnt an der Spina scapulae (Schulterblattgräte; 1) die i. d. R. leicht sicht- und tastbar ist. Tastet man entlang des unteren Rands der Spina scapulae (2) nach lateral, erreicht man das hintere Akromioneck (3) und im weiteren Verlauf die laterale Begrenzung des Akromions (4). Zur Unterscheidung von Akromionrand und Humeruskopf (5) gibt man leichten Zug am Oberarm nach kaudal. Dann palpiert man den ventralen Rand des Akromions (6) bis in eine kleine Lücke (7) – den vorderen Eingang des AC-Gelenkspalt s. Den hinteren Eingang des AC-Gelenkspalts (8) findet man, indem man entlang des Oberrands der Spina scapulae (9) nach lateral tastet, bis dieser mit dem distalen Ende der Klavikula (10) zusammentrifft. Die Verbindungslinie zwischen dem hinteren und vorderen Eingang des AC-Gelenkspalts bildet den Gelenkspaltverlauf des ACG ab. Die Palpation des Proc. coracoideus (11) erfolgt in der Fossa infraclaviculare (12), in welcher er von allen 4 Seiten begrenzt wird und leicht getastet werden kann. Die Verbindungslinie zwischen hinterem Akromioneck und Proc. coracoideus spiegelt annähernd den Verlauf des glenohumeralen Gelenkspalts (13) wider und ist ein wichtiger Anhaltspunkt bei der Gelenkmobilisation (◘ Abb. 1.7).


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Abb. 1.7a,
b Knöcherne Referenzpunkte im Schulterbereich. a Laterale Ansicht: 1 Spina scapulae, 2 Unterrand der Spina scapulae, 3 hinteres Akromioneck, 4 lateraler Akromionrand, 5 lateraler Rand Tuberculum majus, 6 ventraler Acromionrand, 7 ventraler AC-Gelenkspalt, 8 dorsaler AC-Gelenkspalt, 9 Oberrand der Spina scapulae, 10 M. trapezius. b Ventrale Ansicht: 11 Fossa infraclaviculare, 12 Proc. coracoideus, 13 Gelenkspalt des GHG, 14 Tuberculum minus, 15 Sulcus intertubercularis, 16 Tuberculum majus

Lateral des Proc. coracoideus findet man den medialen Rand des Tuberculum minus (14). Durch Rotation des Oberarms lässt sich das Tuberkel über seinen gesamten Verlauf gut tasten. Der laterale Rand bildet gleichzeitig die mediale Begrenzung des Sulcus intertubercularis (auch Sulcus bicipitalis; 15), der lateral vom Tuberculum majus (16) begrenzt wird. Tuberculum minus und Sulcus intertubercularis lassen sich gut unter Rotation des Oberarms ertasten. Die beiden Tuberkel sind Ansatzstellen für die Muskeln der Rotatorenmanschette.


1.2 Ellenbogenkomplex



1.2.1 Gelenke


Der Ellenbogen (◘ Abb. 1.8) besteht aus


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Abb. 1.8
Gelenke des Ellenbogens (mod. nach Tillmann 2009)





  • dem Humeroulnargelenk (HUG, Art. humeroulnaris),


  • dem Humeroradialgelenk (HRG, Art. humeroradialis) und


  • dem proximalen Radioulnargelenk (PRUG, Art. radioulnaris proximalis).

Alle 3 Gelenke liegen in einer einzigen Gelenkkapsel und ermöglichen Flexion, Extension und in Verbindung mit dem distalen Radioulnargelenk die Pro- und Supination des Unterarms.


Humeroulnargelenk (HUG)


Das HUG ist ein sattelförmiges Gelenk: Die Trochlea humeri ist in mediolaterale Richtung konkav und in anteroposteriore Richtung konvex, die artikulierende Incisura trochlearis ulnae zeigt die entgegengesetzte Form. Proximal der Trochlea befindet sich auf der ventralen Seite die Fossa coronoidea, die bei Ellenbogenflexion den Proc. coronoideus ulnae aufnimmt und dorsal die Fossa olecrani, die bei maximaler Extension vom Olekranon ausgefüllt wird. In diesem Gelenk spielen sich vor allem Flexion und Extension, aber auch ein bestimmtes Maß an Ab- bzw. Adduktion der Ulna gegenüber dem Humerus ab.

Medial und proximal des HUG befindet sich der Epicondylus medialis , der als Ansatz für die Handflexoren, den M. pronator teres und den medialen Kapsel-Band-Apparat dient.


Humeroradialgelenk (HRG)


Das HRG ist ein eiförmiges Gelenk: Das konvexe Capitulum humeri artikuliert mit der konkaven Fovea articularis radii des Caput radii, das bei maximaler Flexion in der Fossa radialis liegt. Etwas weiter lateral und proximal befindet sich der Epicondylus lateralis, das Insertionsgebiet für die Unterarmextensoren, den M. anconeus und den lateralen Kapsel-Band-Apparat.


Proximales Radioulnargelenk (PRUG)


Das PRUG wird über die Artikulation zwischen der Circumferentia articularis radii (konvex) und der Incisura trochlearis ulnae (konkav) gebildet. Durch das Lig. anulare wird der Radius an die Ulna fixiert und stabilisiert. Die Innenseite des Ligaments ist mit hyalinem Knorpel überzogen und artikuliert auch mit der Zirkumferenz des Radius. Da das Caput radii eine leicht ovale Form hat, entfernt sich der Radiusschaft bei der Pronationsbewegung des Unterarms etwas von der Ulna; dadurch kann sich die Tuberositas radii zusammen mit der Insertion des M. biceps brachii ohne Probleme zwischen Radius und Ulna hindurchbewegen.

Bei einer Schwellung der Insertion des M. biceps brachii oder der Bursa bicipitoradialis kann es zu Schmerzen während der Pronation kommen, ähnlich dem schmerzhaften Bogen bei einer Impingementsymptomatik der Schulter.


1.2.2 Kapsel-Band-Apparat


Neben der hohen knöchernen Gelenkstabilität leistet auch das Kapsel-Band-System einen wichtigen Beitrag zur Stabilität des Ellenbogens (Morrey 2000) (◘ Abb. 1.9). Die Gelenkkapsel lässt die Enden der Epicondyli lateralis und medialis frei, wird seitlich durch die Kollateralbänder verstärkt und ist mit dem Lig. anulare verwachsen. Die dorsalen Kapselanteile kommen bei Flexion, die anterioren Anteile bei Extension in Spannung und helfen, die beiden Bewegungen passiv zu begrenzen. Das 3-teilige mediale Seitenband (Lig. collaterale ulnare , LCU) stabilisiert den Ellenbogen gegen Valgusstellung und Hyperextension; der laterale Bandkomplex (LBK), zu dem auch das laterale Seitenband (Lig. collaterale radiale , LCR) und das Lig. anulare zählen, stabilisiert die Varusbewegung sowie die Außenrotation des Unterarms gegenüber dem Oberarm. Außerdem garantiert er die Stabilität des Caput radii (Regan et al. 1991; Field 1996; Tyrdal u. Olsen 1998).


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Abb. 1.9a–c
Kapsel-Band-Apparat des Ellenbogengelenks (mod. nach Tillmann 2009)

◘ Tabelle 1.3 gibt eine detaillierte Übersicht über die Bänder des Ellenbogens, deren Verlauf und Funktion.



Tab. 1.3
Bänder des Ellenbogens











































Ligament

Ursprung

Ansatz

Funktion

Lig. collaterale mediale pars anterior (LCU-PA)

Inferiore Fläche des Epicondylus medialis

Anteromedial am Proc. coronoideus ulnae

– Hauptstabilisator des medialen Ellenbogens

– Das gesamte LCM stabilisiert den Valgus (die IR des Unterarms gegenüber dem Oberarm zwischen 20° und 120° und zusätzlich die Extension

– In voller Extension/Flexion wird das Gelenk vermehrt durch die Kongruenz der Gelenkflächen stabilisiert

Lig. collaterale mediale pars posterior (LCU-PP)

Posterior der Pars anterior

Medialseite des Olekranon

Lig. collaterale mediale pars transversum

Mediale Ulna

Mediale Ulna

– Intrinsisches Ligament ohne Stabilisationsfunktion für den Ellenbogen

Lig. collaterale laterale (LCL)

Epicondylus lateralis

Lig. anulare, Ursprung des M. supinator und der Extensoren

– Hauptstabilisator des lateralen Ellenbogens

– Es stabilisiert zusätzlich das Caput radii

– Das LCL stabilisiert den Varus und zusätzlich die AR des Unterarms gegenüber Oberarm

Laterales ulnares Kollateralligament (LUKL)

Epicondylus lateralis

Crista supinatores ulnae

Stabilisiert mit dem LCL die Varusbewegung im – Ellenbogen und die AR des Unterarms gegenüber dem Oberarm

Lig. anulare (LA)

Posterior der Incisura radialis ulnae

Anterior der Incisura radialis ulnae

– Fixiert den Radius an der Ulna


Bewegungsbegrenzende Strukturen


Um bei der klinischen Untersuchung eine Beziehung zwischen den passiven Bewegungen und den bewegungslimitierenden bzw. stabilisierenden Strukturen herstellen zu können, sind in ◘ Tab. 1.4 für jede Bewegung die begrenzenden Strukturen aufgezählt.



Tab. 1.4
Passive Bewegungen des Ellenbogens und deren hemmende Strukturen




































Bewegung

Hemmung durch

Kommentar

Extension

– Spannung der anterioren Kapsel

– Spannung des Lig. collaterale mediale pars anterior

Bei einem Hyperextensionstrauma kommt es nacheinandner zu folgenden Verletzungen:

1. Anteriore Kapselruptur

2. Ruptur des Flexoren-/Pronatorursprungs und Überdehnung des anterioren Teils des LCM

3. Gelegentlich Teilruptur des LCL

4. Knorpel-Knochen-Kontusionen, evtl. mit Knorpelfragmenten an der dorsalen Ulna

Flexion

– Spannung der dorsalen Kapsel

Bei ausgeprägter Muskulatur Bewegungshemmung (Kompression zwischen Unter- und Oberarmmuskulatur

Pronation

– Spannung der Kapsel-Band-Anteile des distalen Radioulnargelenks

– Muskelkompression zwischen Radius und Ulna

– Spannung des Lig. quadratum
 

Supination

– Spannung der Kapsel-Band-Anteile des distalen Radioulnargelenks

– Spannung des Lig. quadratum

– Spannung der Chorda obliqua und der Membrana interossea

– Passive Dehnung der Antagonisten
 

Valgus

– Lig. collaterale mediale pars anterior, pars posterior
 

Varus

– LBK, Lig. collaterale laterale
 


1.2.3 Muskulatur des Ellenbogens


Affektionen am Ellenbogen betreffen häufig das aktive System: Muskelbauch, Muskel-Sehnen-Übergangs, Sehne oder deren Insertion (◘ Abb. 1.6a). Außerdem können Muskelaktivitäten zu einer Kompression verschiedener Strukturen wie Nerven, Schleimbeutel, Kapselanteile o.Ä. führen.

Eine Übersicht über die gesamte Ellenbogenmuskulatur mit den möglichen Affektionen ist in ◘ Tab. 1.5 dargestellt.



Tab. 1.5
Ellenbogenmuskulatur



































































Muskel/Innervation

Haupt- und Nebenfunktion(en)

Ursprung/Ansatz

Potenzielle Affektionen

M. biceps bachii

N. musculocutaneus (C5–6)

– Flexion Ellenbogen

– Supination Unterarm

– Flexion Schulter (Caput longum)

Caput longum: Tuberculum supraglenoidale, Labrum glenoidale; Caput breve: Proc. coracoideus

Tuberositas radii, über den Lacertus fibrosus an der Fascia antebrachii

Insertionstendopathie an der Tuberorsitas radii, Tendopathie, Bursitis subtendinea m. biceps brachii, Kompression des N. medianus unter dem Lacertus fibrosus

M. brachialis

N. musculocutaneus (C5–6)

– Flexion Ellenbogen

– Spannt die ventrale Gelenkkapsel

Ventrale Fläche des Humerus

Tuberositas ulnae

Myositis ossificans nach direktem Trauma

M. brachioradialis

N. radialis (C5–6)

– Flexion Ellenbogen

– Relative Pro- und Supination Unterarm

Laterale Seite des distalen Humerus, Septum intermusculare laterale

Proc. stiloideus radii

Kompression des N. radialis im Radialistunnel

M. triceps brachii

N. radialis (C7–8)

– Extension Ellenbogen

Caput longum: Tuberculum infraglenoidale; Caput lateralis et medialis: Lateral- bzw. Medialfläche des Humerus

Olekranon

Insertionstendopathie am Olekranon (selten), bei kräftiger Kontraktion Kompression des N. ulnaris unter der Arkade von Struthers

M. anconeus

N. radialis (C7–8)

– Extension Ellenbogen

– Abduktion der Ulna Spannt die dorsale Gelenkkapsel

Epicondylus lateralis humeri

Dorsalfläche der proximalen Ulna

Selten betroffen

M. pronator teres

N. medianus (C6–7)

– Pronation Unterarm

– Flexion Ellenbogen

Epicondylus medialis humeri (Caput humerale), Proc. coronoideus ulnae (Caput ulnare)

Facies lateralis radii

Kompression des N. medianus zwischen seinen beiden Köpfen

M. supinator

N. radialis (C7–8)

– Supination Unterarm

Olekranon, Epicondylus lateralis humeri, LCM

Radius

Kompression des N. radialis unter der Arkade von Frohse

M. extensor carpi radialis longus (ECRL)

N. radialis (C6–7)

– Extension Handgelenk

– Radialduktion Hand

– Flexion Ellenbogen

Crista supracondylaris, Septum intermusculare

Basis Os metacarpale 2

Insertionstendopathie an der Crista supracondylaris

M. extensor carpi radialis brevis (ECRB)

N. radialis (C7–8)

– Extension Handgelenk

– Flexion Ellenbogen

Epicondylus lateralis humeri

Basis Os metacarpale 3

Insertionstendopathie am Epicondylus lateralis, Tendopathie

M. extensor carpi ulnaris (ECU)

N. radialis (C7–8)

– Extension Handgelenk

– Ulnarduktion Hand

Epicondylus lateralis humeri

Basis Os metacarpale 5

Überwiegend am Handgelenk betroffen; Kompression des N. ulnaris zwischen seinen beiden Köpfen

M. extensor digitorum (ED)

N. radialis (C7–8)

– Extension Finger 2–5

– Extension Handgelenk

– Spreizen der Finger

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Sep 25, 2016 | Posted by in PHYSICAL MEDICINE & REHABILITATION | Comments Off on Anatomie, Anatomie in vivo, Biomechanik

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