Schulterkomplex




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Fakultät für Therapiewissenschaften, SRH Hochschule Heidelberg, 69123 Heidelberg, Deutschland

 



Zusammenfassung

Trotz einer hohen Mobilität weist ein gesundes Schultergelenk eine enorme Stabilität auf. Funktionell ist es an andere Gelenke gekoppelt: den Schultergürtel, die Halswirbelsäule, die obere Brustwirbelsäule und die Rippen. Dieses Kapitel stellt die Diagnostik und Therapie sowohl für Pathologien des Akromioklavikular- und Sternoklavikulargelenk als auch für häufig vorkommende Beschwerden des Schultergelenkes dar, wie z.B. Impingementsyndrom, Schulterinstabilität, Skapuladyskinese oder Bewegungseinschränkungen.


Trotz einer hohen Mobilität weist ein gesundes Schultergelenk eine enorme Stabilität auf. Funktionell ist es an andere Gelenke gekoppelt: den Schultergürtel, die Halswirbelsäule, die obere Brustwirbelsäule und die Rippen.

Der Schulterkomplex wird überwiegend im offenen System gebraucht. Stützaktivitäten kommen zwar vor, spielen aber eine eher untergeordnete Rolle.


Wichtig

Für eine einwandfreie Funktionsfähigkeit sind das Schultergelenk und der Schultergürtel neben einem intakten Kapsel-Band-Apparat im Wesentlichen auf dynamische Stabilisatoren angewiesen.

Da Instabilitäten neben traumatischen Ursachen vor allem durch extreme Belastungen wie z. B. durch Wurfbewegungen im Sport verursacht werden, wurden die ersten Untersuchungen über die Biomechanik und das Zusammenspiel von aktiven und passiven Strukturen im Rahmen sportlicher Aktivitäten durchgeführt.

Schulterbeschwerden kommen jedoch nicht nur bei aktiven Sportlern vor, sondern können nahezu in jedem Alter auftreten und gehören mit zu den häufigsten Beschwerden am Bewegungsapparat (Rekola et al. 1993; van der Windt et al. 1995). Obwohl Schulterbeschwerden zu erheblichen Einschränkungen im Alltag, bei der Arbeit und beim Sport führen können und sich durch Abwarten in vielen Fällen nicht verbessern, scheinen die Betroffenen zunächst doch abzuwarten oder selbst zu versuchen, den Beschwerden „Herr zu werden“ (Croft et al. 1996; Östör et al. 2005). Im Gegensatz zu Patienten mit Kreuzschmerzen dauert es daher wesentlich länger, bis sie einen Arzt oder Physiotherapeuten aufsuchen. Dies mag u. a. dadurch begründet sein, dass einseitige Schulterbeschwerden besser kompensiert werden können und in vielen Fällen an bestimmte Tätigkeiten, Haltungen oder Bewegungen gekoppelt sind. Spätestens jedoch, wenn die Nachtruhe gestört ist, finden sich die Betroffenen beim Arzt ein.

Diagnostisch ist das Schultergelenk immer noch eine Herausforderung. Bildgebende Verfahren bringen nicht genügend Aussagen für die Diagnostik; sie sind daher nicht wegweisend, sondern sollten als Ergänzung der klinischen Untersuchung dienen. Durch den lokalen und funktionellen Zusammenhang zwischen Schultergelenk, Schultergürtel, Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule, Rippen und zervikalem Plexus ist eine eindeutige Zuordnung der Beschwerden nicht immer leicht, in vielen Fällen können mehrere Strukturen zum Beschwerdebild beitragen. Da das Schultergelenk proximal im C5-Dermatom liegt (◘ Abb. 4.1), strahlen die Beschwerden häufig in den seitlichen oder vorderen Oberarm aus, was jedoch keinen Rückschluss auf die verantwortliche Struktur als Quelle der Symptome zulässt. Weiterhin ist bei der Untersuchung der Schulter zu bedenken, dass sich verschiedene Strukturen nur zusammen und nicht isoliert bewegen lassen.


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Abb. 4.1
Schmerzprojektion von Schultergelenkstrukturen ins Dermatom C5 (rot) und von ACG- und SCG-Strukturen ins Dermatom C4 (blau)


4.1 Screeningfragen


Für die Anamnese ist es hilfreich, nach Haltungen, Positionen, Aktivitäten oder Bewegungen zu fragen, die die Schulter erfahrungsgemäß provozieren. Mögliche Fragen sind in ▶ Übersicht 4.1 aufgelistet.


Übersicht 4.1 Screeningfragen in der Anamnese





  • Haare waschen/föhnen/kämmen?


  • Schrank oder Regal ein-/ausräumen?


  • Jacke oder Pullover anziehen?


  • Auf den Rücken greifen/BH zumachen?


  • Gegenstände hochheben?


  • Auf den Arm stützen?


  • Tätigkeiten mit alternierenden Bewegungen, z. B. wischen, saugen, bügeln usw.?


  • Auf der betroffenen Seite liegen? Falls ja, wie lange dauert es, bis Beschwerden auftreten?


  • Nächtliches Aufwachen aufgrund von Schulterbeschwerden? Häufigkeit? → Frequenz notieren


  • Etwas mit ausgestrecktem Arm tragen?


  • Gefühl von Instabilität bei bestimmten Bewegungen?


  • Geräusche beim Bewegen?


4.2 Schulterspezifische Inspektion


Bei der Schulterinspektion werden die in ▶ Übersicht 4.2 aufgeführten Punkte beachtet; Auffälligkeiten werden notiert.


Übersicht 4.2 Inspektion der Schulter





  • Schonhaltung der Extremität


  • ACG-/SCG-Form


  • Trophik der Rotatorenmanschette


  • Statische Skapulaposition


  • Haltung


  • Kopfposition


Schonhaltung der Extremität





  • Der Arm wird am Körper getragen, eventuell durch den gesunden Arm gestützt.


  • Die Schulter wird hochgezogen und/oder steht in leichter Protraktion.


ACG-/SCG-Form

Sichtbare Deformierungen können auf eine Arthrose oder eine Instabilität hinweisen. Unter anderem kann eine Schwellung (Gelenkerguss) dafür verantwortlich sein.


Trophik der Rotatorenmanschette

Vor allem die Muskelbäuche der Mm. supra- und infraspinatus sind gut zu beurteilen; indem man von lateral über die Spina scapulae schaut, kann man eine Aussage über die Trophik dieser beiden Muskeln machen. Eine Atrophie kommt vor bei Lähmung, Sehnenabriss, länger andauernder Inaktivität oder reflektorischer Inhibition.


Statische Skapulaposition

Der mediale Rand sollte anliegen und in etwa parallel zur Wirbelsäule verlaufen. Klinisch relevante Informationen erhält man jedoch überwiegend über die aktiv-dynamischen Armbewegungen (▶ Abschn. 4.4.1, „Aktive Stabilität des Schultergürtels“).


Haltung

Sowohl die Beurteilung der Gesamthaltung als auch speziell die des Oberkörpers spielt bei der Inspektion der Schulter eine Rolle. Die Körperhaltung beeinflusst direkt die Position des Schultergelenks, die Weite des Subakromialraums sowie die Stabilität. In weiterer Konsequenz führen z. B. protrahierte Schultern und eine kyphotische Haltung zu einer Einschränkung der Gesamtelevation und Überlastung des Schultergelenks.


Kopfposition

Eine protrahierte Kopfhaltung (Forward Head Position ) führt leicht zu vermehrter Belastung in den Übergangsbereichen von Brustwirbelsäule, Halswirbelsäule und Kopf; dies kann sich wiederum negativ auf die Funktionsfähigkeit und die Koordination des Schulterkomplexes auswirken.


4.3 Schulterspezifische Funktionsuntersuchung



4.3.1 Differenzierung zwischen Schulter, HWS und neuralem System


Die Differenzierung dient zur ersten Orientierung, vor allem bei akuten und subakuten Beschwerden. Eine globale Differenzierung wird zu Beginn der physischen Untersuchung vorgenommen, wenn aufgrund der Anamnese eine Beteiligung dieser Bereiche abgeklärt werden muss. Ansonsten kann sie bei Bedarf zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt werden. Die Ergebnisse wiederum müssen durch spezifische Untersuchungen der einzelnen Bereiche und die Probebehandlung verifiziert werden. Beispielhaft wird ein Patient vorgestellt, der Schmerzen bei der aktiven Elevation des Arms angibt. Diese Bewegung wird hier aufgrund ihres häufigen Vorkommens gewählt, die Vorgehensweise gilt jedoch auch für jede andere schmerzhafte Bewegung (Pfund u. Zahnd 2001).


Praktisches Vorgehen



Differenzierung zwischen Schultergelenk und HWS

Im ersten Schritt bewegt der Patient seinen Arm in eine Position, in der er seinen typischen Schmerz spürt, aber gut tolerieren kann (◘ Abb. 4.2a). Nun bewegt der Patient die HWS in gleichsinnige Extension-Seitneigung-Rotation (Spurling-Position) (◘ Abb. 4.2b). Nehmen die Beschwerden zu, ist wahrscheinlich die HWS ursächlich.

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Abb. 4.2a–d
Differenzierung zwischen Schulter, HWS und neuralem System. Schultergelenk – HWS: a Position, in der der Patient den Schmerz spürt; b gleichsinnige Extension-Seitneigung-Rotation nach rechts (Spurling-Position). Schulter – neurales System: c Position, in der der Patient den Schmerz spürt; d Handgelenk- und Fingerextension

Zur Gegenprobe wird zuerst die HWS in die o. g. Position geführt, dann die Schulter. Bessern sich die Beschwerden, wenn die HWS wieder in Nullstellung gebracht wird, bestätigt das die HWS als Ursache für die Beschwerden. Eine eindeutige Bestätigung dieser Tatsache wäre es dann, wenn die isolierte HWS-Bewegung die typischen Beschwerden provoziert, was häufig auch der Fall ist.


Differenzierung zwischen Schulter und neuralem System

Der Arm wird wieder in die schmerzhafte Position geführt (◘ Abb. 4.2a). Dann wird über Handgelenk- und Fingerextension die Spannung im neuralen System erhöht (◘ Abb. 4.2d). Führt die Spannungserhöhung zu einer Veränderung der Beschwerden, ist eine Beteiligung des neuralen Systems anzunehmen.

Zur Gegenprobe werden Handgelenk und Finger extendiert (◘ Abb. 4.2c), dann die Schulter bis in den Schmerz in Abduktion bewegt (◘ Abb. 4.2d). Verringern sich die Beschwerden, wenn Handgelenk und Finger zurückgeführt werden (◘ Abb. 4.2a), bestätigt das die obige Aussage.

Auch andere Bewegungskomponenten können zur Spannungsänderung im neuralen System verwendet werden, wie z. B. die ein- oder beidseitige Knieextension oder Bewegungen der HWS in Flexion, Extension oder Seitneigung.


Wichtig

Beim neuralen Testen sollte vorher sichergestellt werden, dass die isolierten Bewegungen der HWS, die in der Basisfunktionsprüfung der Schulter dargestellt sind, die typischen Schulterbeschwerden nicht provozieren (Abschn. 4.3.2, „Aktive Bewegungen der HWS“).


4.3.2 Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes


◘ Tabelle 4.1 gibt einen Überblick, welche Bewegungen bei der Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes getestet werden.



Tab. 4.1
Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes
































Bereich

Testbewegungen

Information/Aussage

HWS

– Aktive Flexion

– Aktive Extension

– Aktive Rotation rechts/links

– Aktive Seitneigung rechts/links

– Auslösen typischer Symptome

– Aktives Bewegungsausmaß/-einschränkung

– Auslösen atypischer Symptome

Schulterkomplex

– Aktive Elevation über Flexion

– Aktive Elevation über Abduktion

– Passive Elevation über Flexion

– Passive Elevation über Abduktion

– Koordination der Gesamtbewegung

– Schulterblattführung

– Schmerzhafter Bogen/Subakromialraum

– Ausweichbewegungen

– Bewegungsbereitschaft

Schultergürtel: 4 aktive Bewegungen

– Aktive Elevation

– Aktive Depression

– Aktive Retraktion

– Aktive Protraktion

– Aktives Bewegungsausmaß/Einschränkung

– Koordination

– Schmerzen im Bereich ACG/SCG

– Plexus brachialis-Provokation

Schultergelenk: 3 passive Bewegungen

– Passive Außenrotation

– Passive Innenrotation

– Passive Abduktion

– Kapsel-Band-Apparat/Gelenkflächen

– Passives Bewegungsausmaß

Schultergelenk: 6 isometrische Widerstandstests

– Isometrische Abduktion

– Isometrische Abduktion

– Isometrische Innenrotation

– Isometrische Außenrotation

– Isometrische Flexion Ellenbogen

– Isometrische Extension Ellenbogen

– Kraft

– Affektionen der Muskel-Sehnen-Strukturen

– Reflektorische Inhibition

– Kompression passiver Strukturen (Bursae)


Aktive Bewegungen der HWS


Die Basisfunktionsprüfung der Schulter beginnt i. d. R. mit aktiven Bewegungen der HWS (◘ Abb. 4.3a–f). Ergänzt wird sie um die aktive Pro- und Retraktion der HWS (◘ Abb. 4.3g, h), um bei Flexion/Extension zwischen oberer und unterer HWS unterscheiden zu können.


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Abb. 4.3a–h
Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes: aktive Bewegungen der HWS. a Flexion, b Extension, c Rotation links, d Rotation rechts, e Seitneigung links, f Seitneigung rechts; ergänzend g Protraktion und h Retraktion des Schultergürtels

Der Therapeut instruiert die Bewegungen verbal oder macht diese selbst vor, und der Patient bewegt entsprechend. Beantwortet werden sollen die in ▶ Übersicht 4.3 aufgelisteten Fragen.


Übersicht 4.3 Basisfunktionsprüfung: Aktive Bewegungen der HWS





  • Reproduzieren die HWS-Bewegungen die typischen (Schulter-)Beschwerden des Patienten? Ist das der Fall, handelt es sich bis zum gegenteiligen Beweis um eine HWS-Problematik.


  • Können die typischen (Schulter-)Beschwerden des Patienten nicht reproduziert werden, und werden aber andere Beschwerden provoziert, müssen diese notiert werden. Die HWS sollte dann bei der Behandlung als evtl. beitragender Faktor berücksichtigt werden.


Aktive Bewegungen des Schultergürtels


Der Schultergürtel wird aktiv so weit wie möglich in Protraktion, Retraktion, Elevation und Depression bewegt (◘ Abb. 4.4a–d).


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Abb. 4.4a–d
Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes: aktive Bewegungen des Schultergürtels. a Elevation, b Depression, c Protraktion, d Retraktion

Entstehen bei diesen Bewegungen Schmerzen, sollte direkt geklärt werden, an welcher Stelle der Patient diese spürt, um zwischen Schultergürtel und Schultergelenk unterscheiden zu können. Die Retraktion und Depression können durch Kompression oder Dehnung auch neurale Strukturen provozieren, was sich an der Qualität der entstehenden Symptome zeigt.

Zeigt sich eine Bewegungseinschränkung, muss die Ursache ermittelt werden. Dazu ist es notwendig, die Bewegungen passiv durchzuführen und die einzelnen Gelenke des Schultergürtels spezifisch zu untersuchen (▶ Abschn. 4.4.1).


Aktive und passive Armelevation über Abduktion und Flexion


Aktive und passive Bewegung werden kombiniert, um eine strukturspezifische Diagnose erstellen bzw. die Lokalisation der Strukturen finden zu können.


Praktisches Vorgehen


Aktive Elevation

Ziel der aktiven Elevation ist es,





  • zum einen das Bewegungsverhalten der Schulterblätter zu beurteilen, das auf eine mögliche Skapuladyskinese hinweisen kann (▶ Abschn. 4.4.1, „Mangelnde aktive Schultergürtelstabilität“),


  • zum anderen einen schmerzhaften Bogen sichtbar zu machen, der durch die vermehrte Kompression der Strukturen im Subakromialraum entsteht. Diese Kompression ist mit einer passiv durchgeführten Elevation nur schwer zu provozieren.


Wichtig

Ein schmerzhafter Bogen ( Painful Arc ) bedeutet, dass es in bestimmten Abschnitten der aktiven Bewegung zu Schmerzen kommt (◘ Abb. 4.5a–e).

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Abb. 4.5a–h
Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes: aktives und passives Heben der Arme in Elevation über Abduktion und Flexion. a–e Painful Arc beim aktiven Heben der Arme in Elevation über Abduktion, f passive Elevation, g, h Elevation mit Zusatzgewicht (1- bis 2-kg-Hanteln)

Um von einem echten Painful Arc sprechen zu können, muss die anschließend ausgeführte passive Elevation weitgehend schmerzfrei sein, da die durch die Muskelaktivität verursachte Kompression wegfällt. Auch das Gelenk sollte passiv weitgehend frei sein.

Für einen direkten Vergleich ist es sinnvoll, die Elevation zunächst beidseitig ausführen zu lassen. Soll das maximal mögliche Bewegungsausmaß der gesamten Bewegungskette überprüft werden, muss die Armbewegung einseitig ausgeführt werden. Anschließend bewegt der Therapeut den Arm passiv in die Elevation.


Passive Elevation

Der Therapeut steht schräg hinter dem Patienten. Eine Hand des Therapeuten liegt auf der Skapula, mit der ulnaren Handkante an der oberen Hälfte der Margo medialis, die andere Hand umgreift den distalen Oberarm des Patienten und führt diesen in Elevation. Am Bewegungsende gibt der Therapeut Überdruck in mediale Richtung; die auf der Skapula liegende Hand verhindert dabei eine weitere Mitbewegung der Skapula und eine Ausweichbewegung des Patienten (◘ Abb. 4.5f).


Wichtig

Bei der passiven Elevation wird das Endgefühl beurteilt.


Befundinterpretation

Die Kombination der aktiv und passiv getesteten Elevation sowie die Schmerzlokalisation können wertvolle Informationen über die Schmerzursache und das weitere Vorgehen liefern. Aus dieser Testbewegung können sich die in ▶ Übersicht 4.4 zusammengestellten Befunde ergeben:


Übersicht 4.4 Befunde der kombiniert aktiv und passiv getesteten Elevation





  • Der Patient kann den Arm bis nach oben heben, zeigt aber einen schmerzhaften Bogen. In dem Fall geht man von einer Problematik im Subakromialraum aus.


  • Der Patient kann den Arm trotz Schmerzfreiheit nur eingeschränkt nach oben führen, passiv kann die Elevation jedoch ebenfalls schmerzfrei weitergeführt werden; hier kann es sich um eine Lähmung des N. thoracicus longus (M. serratus anterior) oder des N. axillaris (M. deltoideus und M. teres minor) handeln.


  • Ist die Bewegung aktiv durch Schmerzen eingeschränkt und auch passiv sehr schmerzhaft und eingeschränkt, kann es sich um eine akute Bursitis subacromialis handeln. Hinweise, um zwischen einer Bursitis und einer schmerzhaften kapsulären Bewegungseinschränkung zu differenzieren, sind die Entstehungsgeschichte und die betonte Einschränkung der Elevation über Abduktion.


  • Der Patient kann den Arm nur eingeschränkt nach oben führen, die passive Elevation ist in ähnlichem Maß eingeschränkt. Dieser Befund gibt Hinweis auf eine kapsuläre Bewegungseinschränkung, die je nach Stadium mit oder ohne Schmerzen vorliegen kann und über die weitere passive Bewegungsuntersuchung bestätigt wird.


  • Der Patient kann den Arm aktiv gar nicht oder nur wenig anheben. Ist dieser Versuch von wenig Schmerz begleitet und die passive Bewegung weitgehend frei, kann wiederum eine Lähmung oder eine Totalruptur der Rotatorenmanschette vorliegen.

Praxistipp

Sollte die Anamnese einen Hinweis auf ein Problem bei der Elevationsbewegung geben, das sich in der Basisfunktionsuntersuchung allerdings nicht provozieren lässt, kann die Bewegung nochmals mit einem Zusatzgewicht (1- bis 2-kg-Hanteln) durchgeführt werden (◘ Abb. 4.5g, h).


Passive Bewegungen des Schultergelenks


Um festzustellen, ob die Bewegungseinschränkung des Gelenks von den passiven Gelenkstrukturen ausgeht, ist es ausreichend, zunächst die passive Außenrotation, Innenrotation und Abduktion zu testen (◘ Abb. 4.6). Vor der passiv durchgeführten Bewegung durch den Therapeuten kann der Patient die Bewegung zunächst einmal aktiv ausführen. Je nach Irritierbarkeit ist es möglich, bis zum Bewegungsende zu gehen und dort Überdruck zu geben, um das Endgefühl beurteilen zu können. Entstehen dabei Schmerzen, ist es sinnvoll, die passiven Bewegungen auf eine bestimmte Schmerzintensität zu begrenzen (z. B. 5/10 VNS), um eine weitere Reizung der Gelenkstrukturen zu vermeiden. Die Ergebnisse werden entsprechend der Beschreibung in ▶ Abschn.​ 3.​4, „Notation“, dokumentiert.


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Abb. 4.6a-c
Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes: passive Bewegungen. a Außenrotation, b Innenrotation, c Abduktion


Praktisches Vorgehen


Passive Außenrotation (◘ Abb. 4.6a)

Der Therapeut steht seitlich neben dem Patienten. Er stabilisiert zum einen die gegenüberliegende Schulter, um eine Mitbewegung des Rumpfes zu verhindern, zum anderen mit seinem Becken oder Rumpf den Ellenbogen des zu bewegenden Arms. Der Arm des Patienten wird nun langsam in Außenrotation geführt; dabei wird das Bewegungsgefühl beurteilt. Wenn der Patient es zulässt, kann der Arm endgradig bewegt und am Bewegungsende Überdruck gegeben werden, um das Endgefühl zu beurteilen.


Passive Innenrotation (◘ Abb. 4.6b)

Wie bei der Außenrotation steht der Therapeut seitlich und fixiert den auf 90° gebeugten Ellenbogen mit dem Becken. Er bewegt den Arm des Patienten in Innenrotation, wenn möglich wieder mit Überdruck am Ende der Bewegung.


Passive Abduktion (◘ Abb. 4.6c)

Bei der passiven Abduktion ist darauf zu achten, den Arm in Skapulaebene zu bewegen und den Oberarm in neutraler Rotation zu halten. Der Therapeut steht seitlich hinter dem Patienten. Er setzt den Daumen von lateral gegen den Angulus inferior der Skapula und verhindert hierüber ein Mitbewegen derselben. Der Ellenbogen des Patienten wird 90° gebeugt und in der Mitte des Unterarms gehalten, wodurch sich die Rotation gut kontrollieren lässt. Dann wird der Arm des Patienten so weit in Abduktion geführt, bis sich die Skapula nicht mehr stabilisieren lässt.


Wichtig

Aufgrund der nur relativen Fixation der Skapula ist es bei der Abduktion nicht möglich, einen Überdruck zu applizieren und somit das Endgefühl zu beurteilen.


Isometrische Widerstandstests


Im Schultergelenk werden nacheinander folgende Bewegungen gegen Widerstand getestet: Adduktion, Abduktion, Außenrotation, Innenrotation; zusätzlich im Ellenbogengelenk die Flexion und Extension. Alle Tests werden im Seitenvergleich durchgeführt.


Wichtig

Beurteilungskriterien für die Widerstandstests sind



  • Kraft und


  • Schmerz.

Die Befundergebnisse werden entsprechend der Beschreibung in ▶ Abschn.​ 3.​4, „Notation“, dokumentiert.

◘ Tabelle 4.2 gibt einen Überblick, welche Muskeln gegen den Widerstand anspannen müssen. Ist die Adduktion gegen Widerstand negativ, kann man die großen Adduktoren wie M. pectoralis major, M. latissimus dorsi, M. teres major und M. coracobrachialis ausschließen.



Tab. 4.2
Isometrische Widerstandstests




























Bewegungsrichtung

Muskeln/Strukturen

Adduktion

M. pectoralis major, M. latissimus dorsi, M. teres major und M. coracobrachialis

Abduktion

M. supraspinatus

Außenrotation

M. infraspinatus

Innenrotation

M. subscapularis

Ellenbogenflexion

M. biceps brachii (auch: Labrum glenoidale)

Ellenbogenextension

M. triceps brachii (auch: vermehrte Kompression subakromial)


Praktisches Vorgehen

Der Widerstand sollte ein- und ausschleichend gegeben werden. Die Anweisung an den Patienten ist, gegen den Widerstand zu halten.


Adduktion (◘ Abb. 4.7a)



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Abb. 4.7a–g
Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes: isometrische Widerstandstests. a Adduktion, b Abduktion, c Innenrotation, d Außenrotation, e Ellenbogenflexion, f Ellenbogenextension, g horizontale Adduktion

Der Arm des Patienten wird in leichter Abduktion eingestellt und ist im Ellenbogen 90° gebeugt. Der Therapeut stabilisiert den Patienten mit einer Hand am Becken, mit der anderen Hand zieht er den Arm des Patienten am Ellenbogen in Abduktion. Der Patient hält den Widerstand.


Abduktion (◘ Abb. 4.7b)

Der Therapeut stabilisiert den Patienten an der gegenüberliegenden Schulter und drückt den Ellenbogen des Patienten in Adduktion; der Patient hält dagegen, so dass keine Bewegung zustande kommt.


Innen-/Außenrotation (◘ Abb. 4.7c, d)

Der Therapeut stabilisiert den Patienten an der gegenüberliegenden Schulter. Der Widerstand gegen die Innen- bzw. Außenrotation wird am distalen Unterarm gesetzt. Zu beachten ist, dass der Patient seinen Oberarm an seinem Oberkörper anlegen kann. Sollte dies nicht der Fall sein, kann der Patient ein gefaltetes Handtuch o. Ä. zwischen Rumpf und Oberarm klemmen.


Ellenbogenflexion/-extension (◘ Abb. 4.7e, f)

Der Ellenbogen des Patienten ist 90° gebeugt, der Unterarm ist supiniert. Der Therapeut gibt senkrechten Widerstand auf den distalen Unterarm. Die andere Hand stabilisiert den Ellenbogen.


Horizontale Adduktion (◘ Abb. 4.7g)

Als letzte Bewegung der Basisfunktionsprüfung wird die horizontale Adduktion getestet.


Wichtig

Die horizontale Adduktion kann als unspezifische Provokationsbewegung angesehen werden, da sie bei den unterschiedlichsten Pathologien Schmerzen hervorrufen kann. Es empfiehlt sich, diese Bewegung ergänzend zu testen, wenn die Information wichtig erscheint.

Der Therapeut führt den Arm des Patienten langsam in horizontale Adduktion. Die Bewegung kann bis zum Bewegungsende durchgeführt werden, sofern keine Schmerzen auftreten. Für den Überdruck wird der Patient am Schulterblatt stabilisiert und der Ellenbogen in Richtung der stabilisierenden Hand gedrückt.


4.3.3 Erweiterte Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes


Sollte die Anamnese eine genauere Untersuchung einzelner Bereiche nahelegen, können die einzelnen Teile der Basisfunktionsprüfung erweitert werden (◘ Tab. 4.3).



Tab. 4.3
Erweiterte Basisfunktionsprüfung des Schulterkomplexes




























Bereich/Struktur

Testbewegungen

Information/Aussage

HWS

– SN li/ROT re/EXT

– SN li/ROT li/EXT

– SN re/ROT li/EXT

– SN re/ROT li/EXT

– Vermehrte Gelenkprovokation

– Vermehrte Provokation der Nervenwurzeln

Schultergelenk

– Passive Innenrotation in 90° Abduktion

– Passive Außenrotation in 90° Abduktion

– Quadrantentest

– Locking

– Endgradige Einschränkungen

– Inferiore Kapsel-Band-Anteile

– Subakromiale Kompression

Muskulatur

– Lift-off Test

– AR-Lag-Sign

– Jobe Test

– M. subscapularis

– M. infra-/supraspinatus

Nervale Strukturen

– Neurale Spannungstests der oberen Extremität (ULTT 1, 2a, 2b, 3)

– Gleitfähigkeit bzw. Spannungsverträglichkeit des peripheren Nervensystems


HWS


Als erste Erweiterung werden die aktiven Bewegungen der HWS vom Therapeuten bis zum ersten Widerstand (R1) bzw. bis zum Endgefühl (R2) passiv weitergeführt, hier am Beispiel der Rotation dargestellt (◘ Abb. 4.8a). Im zweiten Schritt können Kombinationsbewegungen aus Extension-Linksseitneigung-Linksrotation bzw. Extension-Rechtsseitneigung-Rechtsrotation (◘ Abb. 4.8b) vom Therapeuten durchgeführt werden. Auch ein zusätzlicher axialer Druck über den Kopf auf die HWS kann appliziert werden, entweder in Null- oder in der jeweiligen Endstellung (◘ Abb. 4.8c). Diese zusätzlichen Bewegungen sollten allerdings nur dann durchgeführt werden, wenn der Therapeut sich davon eine wichtige Zusatzinformation verspricht.


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Abb. 4.8a–c
Erweiterte Basisfunktionsuntersuchung des Schulterkomplexes: HWS. a Rotation nach rechts, b Extension-Rechtsseitneigung-Rechtsrotation rechts, c axialer Druck auf die HWS


Vorsicht

Vor einer passiven endgradigen Untersuchung der HWS sollte ein Screening der A. vertebralis durchgeführt werden, um Komplikationen zu vermeiden.


Schultergelenk


Zusätzliche Tests sind





  • die Testung der passiven Innen- und Außenrotation in Abduktionsposition,


  • der Test für den Quadranten und


  • das „Locking“ (Mullen et al. 1989).

Die Drehbewegungen geben weiteren Aufschluss über eventuelle Bewegungseinschränkungen: Mit den letzten beiden Bewegungen kann nochmals die genaue Position ermittelt werden, in der die Schmerzen provoziert werden können, vor allem dann, wenn es sich um kleinere Läsionen handelt und die Schulter nur wenig irritierbar ist.


Praktisches Vorgehen

Die Tests werden in Rückenlage durchgeführt.


Passive Innen-/Außenrotation in Abduktionsposition (◘ Abb. 4.9a, b)



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Abb. 4.9a–e
Erweiterte Basisfunktionsuntersuchung des Schulterkomplexes: Schultergelenk. a Passive Innenrotation, b passive Außenrotation, c, d Quadrantentest, e „Locking“

Die Schulter des Patienten wird in 90° Abduktion positioniert, der Oberarm liegt stabil auf der Bank auf. Über den Unterarm wird die Schulter nun in Außen- bzw. Innenrotation bewegt.


Quadrantentest (◘ Abb. 4.9c, d)

Eine Hand des Therapeuten liegt zur Stabilisation unter dem Schulterblatt des Patienten. Die andere Hand bewegt die Schulter des Patienten in verschiedenen ABD-Positionen (ca. zwischen Neutralstellung und 130° Abduktion) in AR. Geprüft wird, in welcher Position sich Schmerzen provozieren lassen bzw. die Gelenkbeweglichkeit eingeschränkt ist.


„Locking“ (◘ Abb. 4.9e)

Die Schulter des Patienten wird über ABD behutsam in „Locking“-Position geführt. Diese ist erreicht, wenn der Arm sich leicht hinter der Frontalebene befindet und nicht mehr weiter in ABD bewegt werden kann. Geachtet wird auf Bewegungseinschränkungen oder Schmerz.


4.3.4 Neurologische Untersuchung


Zur neurologischen Untersuchung und den neuralen Spannungstests für die obere Extremität (ULTT 1, 2a, 2b, 3) siehe ▶ Abschn.​ 3.​4.​9, „Neurologische Untersuchung“ und „Neurale Untersuchung mittels Spannungstests“.


4.3.5 Translatorische Untersuchung des Schultergelenks


Grundsätzlich können im Anschluss an die Basisfunktionsprüfung die ersten translatorischen Gelenktests durchgeführt werden (◘ Tab. 4.4). Diese liefern weitere Informationen nicht nur bei eingeschränkten Bewegungen, sondern z. B. auch bei subakromialer Symptomatik oder bei Verdacht auf eine Instabilität. Die Gleitbewegungen werden nach den Kriterien in ▶ Abschn.​ 3.​4.​7, „Translatorische Bewegungen “, bewertet.



Tab. 4.4
Translatorische Zusatzuntersuchung des Schulterkomplexes






















Bereich

Testbewegungen

Information/Aussage

ACG, SCG, skapulothorakale Gleitfläche

Siehe ▶ Abschn. 4.4.1, „Pathologien des Schultergürtels“

– Gelenkspiel/Bewegungsausmaß

– (Bewegungs-)Widerstand

– (Typische) Schmerzhaftigkeit

Glenohumeralgelenk

– Dorsaltranslation in Ruhestellung

– Kaudaltranslation in Ruhestellung

– Ventraltranslation in Ruhestellung

– Translation in der eingeschränkten Position (▶ Abschn. 4.4.2, „Bewegungseinschränkungen und ihre klinische Präsentation“)

HWS/BWS

– Zentrale Bewegung von posterior nach anterior

– HWS: segmentales Endgefühl in Seitneigung


Praktisches Vorgehen


Das translatorische Gleiten kann sowohl im Liegen als auch im Sitzen durchgeführt werden. Das Schultergelenk befindet sich in Ruhestellung (ca. 50° Abduktion in Skapulaebene).


Gleiten des Humeruskopfes nach dorsal (◘ Abb. 4.10a)



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Abb. 4.10a–d
Translatorische Untersuchung des Schultergelenks. Gleiten des Humeruskopfes a nach dorsal, b nach kaudal, c, d nach ventral

Der Therapeut hält den Arm des Patienten stabil an seinem Körper. Die Schulter des Patienten ist bei Bedarf auf einem Sandsack gelagert. Der Therapeut schiebt nun den Humeruskopf parallel zu Glenoid und Akromion nach dorsal.


Gleiten des Humeruskopfes nach kaudal (◘ Abb. 4.10b)

Mit einer Hand fixiert der Therapeut das Schulterblatt des Patienten über die Klavikula und den Proc. coracoideus, der Daumen liegt in der Achsel. Mit dem Zeigefinger der fixierenden Hand wird der akromiohumerale Spalt palpiert. Die andere Hand führt Zug am Humerus und somit ein Gleiten nach kaudal aus.


Gleiten des Humeruskopfes nach ventral (◘ Abb. 4.10c, d)

Dieser Test wird vorzugsweise im Sitzen ausgeführt. Seinen Unterarm kann der Patient auf seinem Oberschenkel ablegen. Der Therapeut stabilisiert mit einer Hand die Skapula über die Spina scapulae, die Klavikula und den Proc. coracoideus. Die andere Hand bewegt den Humeruskopf nach ventral. Es bietet sich an, bei dieser Technik zuerst das Gesamtgelenkspiel von dorsal nach ventral zu testen.


Wichtig

Intensität und Ausführung der translatorischen Testbewegungen müssen spezifisch an die Situation des Patienten angepasst werden.


4.3.6 Segmentale Bewegungen der HWS und oberen BWS


Sind Anhaltspunkte vorhanden, dass die HWS oder die BWS einen Einfluss auf die Beschwerden hat, sollten diese segmental getestet werden. Beispielhaft werden drei Techniken zur Untersuchung und Behandlung der WS-Segmente dargestellt. Auffälligkeiten werden notiert, und bei Bedarf wird eine Probebehandlung durchgeführt.


Praktisches Vorgehen



Zentraler posterior-anterior gerichteter Druck (p.-a.) in Bauchlage (◘ Abb. 4.11a)



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Abb. 4.11a–c
Segmentale Bewegungen der HWS und oberen BWS. a Zentraler p.-a. Druck in Bauchlage, b Endgefühl in Seitneigung, c segmentale Bewegungsprüfung der Brustwirbelsäule

Der Patient liegt in Bauchlage, die Halswirbelsäule ist in Nullstellung. Eventuell kann der Patient eine oder beide Hände unter die Stirn legen. Der Therapeut setzt nun beide Daumen senkrecht auf einen Dornfortsatz und umfasst mit seinen Fingern links und rechts die Halswirbelsäule. Er übt senkrechten Druck auf den Dornfortsatz aus und beurteilt Ausmaß, Endgefühl und Schmerzhaftigkeit; er achtet auch darauf, ob sich die typischen Schmerzen des Patienten reproduzieren lassen. Speziell die Segmente C4–Th2 sind für die Untersuchung wichtig.


Endgefühl in Seitneigung (◘ Abb. 4.11b)

Der Patient liegt in Rückenlage, die Halswirbelsäule ist in Nullstellung. Mit der einen Hand setzt der Therapeut, beginnend bei C2, seine Zeigefingerkante senkrecht von außen gegen das Segment; diese Hand fungiert gleichzeitig als eine Art Hypomochlion. Mit der anderen Hand bewegt er den Kopf des Patienten in Seitneigung, so dass es zu einer Betonung der Seitneigung im Segment C2/3 kommt. Getestet wird bis zum Segment C7/Th1. Auffälligkeiten werden notiert und bei Bedarf eine Probebehandlung durchgeführt.


Segmentale Bewegungsprüfung der Brustwirbelsäule (◘ Abb. 4.11c)

Der Patient liegt in Bauchlage, die Arme liegen neben dem Körper. Eine Hand setzt der Therapeut mit der ulnaren Handkante senkrecht auf einen Dornfortsatz auf und verstärkt diese mit der anderen Hand. Wie bei der Halswirbelsäule übt er nun senkrechten Druck auf den Dornfortsatz aus.


4.3.7 Beitragende Faktoren/Beurteilung der Haltung


Beitragende Faktoren oder Haltungsauffälligkeiten werden notiert. Bei Bedarf können individuell Haltungstests durchgeführt werden. Wichtige beitragende Faktoren die Schulter betreffend sind in ▶ Übersicht 4.5 aufgelistet; darüber lassen sich gute Ansätze für Alltagsinstruktionen (Punkte 1–4) oder zusätzliche Therapiemaßnahmen finden (Punkte 3–6).


Übersicht 4.5 Beitragende Faktoren



1.

Arbeitsplatzsituation (Ergonomie)/Arbeitstätigkeit

 

2.

Alltagstätigkeiten/Sportaktivitäten

 

3.

Verhalten und Verständnis des Patienten bzgl. seiner Beschwerden und deren Auslöser

 

4.

Kyphotische Haltung und die Möglichkeit der aktiven Korrektur

 

5.

HWS-/BWS-Stellung oder auffällige Untersuchungsbefunde

 

6.

Muskuläre Defizite und allgemeine Fitness

 


4.3.8 Quick Check-Schulteruntersuchung


Der Quick Check kann zwar nicht die vollständige Untersuchung ersetzen, er kann jedoch eine erste Orientierung geben. In ◘ Tab. 4.5 sind die Tests für die betreffenden Strukturen zusammengefasst.



Tab. 4.5
Quick Check-Schulteruntersuchung






















Struktur

Tests

HWS

Spurling Test rechts (◘ Abb. 4.12a) und links

Neurales System

Aktiver bilateraler ULTT 1 (◘ Abb. 4.12b)

Schulterkomplex

Bilaterale aktive Elevation über Abduktion (◘ Abb. 4.12c)

Schultergelenk

– Schürzengriff (◘ Abb. 4.12d)

– Nackengriff (◘ Abb. 4.12e)

– Horizontale Adduktion (◘ Abb. 4.12f)


4.4 Ausgewählte Schulterpathologien


Die Schulterpathologie wird in 5 Gruppen unterteilt (◘ Tab. 4.6). Diese Unterteilung mag etwas künstlich erscheinen, sie erleichtert jedoch den Überblick und führt in der Praxis zu einer vereinfachten Diagnostik. In der Praxis liegen meist Mischbilder vor. Trotzdem oder gerade deswegen ist es sinnvoll,



Tab. 4.6
Pathologien des Schulterkomplexes
































Gruppe

Bereich

Definition

1

Pathologien des Schultergürtels

Knöcherne Strukturen, Pathologien des Sterno- und Akromioklavikulargelenks, passive und aktive Führung und Stabilität des Schultergürtels/der Skapulae, koordinatives Zusammenspiel von Schultergürtel- und Schulterbewegungen

2

Pathologien der Kapsel, Bänder und Gelenkflächen

Mit Ausnahme der Instabilitäten alle Veränderungen in diesen Strukturen, die zu einer passiven Bewegungseinschränkung im Schultergelenk führen

3

Pathologien des Subakromialraums und der Rotatorenmanschette

Alle strukturellen entzündlichen, degenerativen und funktionellen Pathologien, alle aktiven Bewegungseinschränkungen und koordinativen Defizite in diesem Bereich sowie andere Veränderungen (Tendinosis calcarea)

4

Pathologien des (aktiven und passiven) Halteapparats

Alle Veränderungen, die zu einem Stabilitätsverlust im Glenohumeralgelenk führen

5

Restgruppe einschließlich Differenzialdiagnosen

Lähmungen wie die des N. suprascapularis, Parsonage-Turner-Syndrom, diabetische Schultersteife, HWS-Syndrome, Thoracic outlet-Kompressionssyndrom , Tumoren u. Ä.





  • den Bereich zu identifizieren, von dem die Symptome und Beschwerden des Patienten hauptsächlich ausgehen – der die Quelle der Symptome darstellt, und


  • die Bereiche, die zu den beitragenden Faktoren zählen.

Eine Schleimbeutelentzündung kann z. B. der Grund für die Schmerzen sein, die Ursache aber ist eine zusätzlich bestehende, klinisch nicht vordergründige Schulterinstabilität.

Nachfolgend werden die einzelnen Gruppen mit spezifischer Untersuchung, typischen Pathologien und den Behandlungsmöglichkeiten vorgestellt und die Zusammenhänge der Gruppen untereinander im Kontext erläutert.


4.4.1 Pathologien des Schultergürtels



Pathologien des Akromioklavikulargelenks (ACG)


Beim ACG stehen eindeutig die traumatisch bedingte ACG-Instabilität (auch: Schultereckgelenksprengung) und arthrotisch-degenerative Veränderungen im Vordergrund, wobei eine Arthrose zwar Beschwerden verursachen kann, aber für die Entstehung eines Impingementsyndroms eher als beitragender Faktor eine Rolle spielt. Traumatische Schultereckgelenksprengungen kommen zum großen Teil bei jüngeren Männern vor und sind in den meisten Fällen unvollständig. Sie stellen mit 12 % die zweithäufigste Form der Luxation im Schulterbereich dar, nach den Schultergelenkluxationen mit 85 %, gefolgt von 3 % im SCG. Die meisten ACG-Verletzungen können erfolgreich konservativ behandelt werden.


Traumatisch bedingte ACG-Instabilität


Definition

Bei einer traumatisch bedingten ACG-Instabilität handelt es sich um eine Verletzung des akromioklavikulären Kapsel-Band-Apparats, die ausgehend von einer leichten Reizung zu einer vollständigen Luxation des Gelenks führen kann. Je nach Ausprägung der Kapsel-Band-Verletzungen werden verschiedene Stadien unterschieden.


Stadieneinteilung

Die bekannte Stadieneinteilung nach Tossy (Tossy et al. 1963) wird hier durch die Einteilung nach Rockwood (Williams et al. 1989) ersetzt, da diese ein vollständiges Bild aller Möglichkeiten aufzeigt. Die Stadien und deren klinische Befunde sind in ◘ Tab. 4.7 dargestellt.



Tab. 4.7
Einteilung nach Rockwood bei Schultereckgelenkinstabilität




































Stadium

Verletzungen

Klinischer Befund und Röntgenbefunde

Typ 1 (Tossy1)

– Überdehnung der akromioklavikllären Bänder

– Die korakoklavikulären Bänder sind intakt

– Bewegungsschmerzen, leichter lokaler Druckschmerz über dem AC-Gelenkspalt. Bei der passiv-translatorischen Funktionsuntersuchung besteht i. d. R. kein passiver Stabilitätsverlust, weder in anterior-posteriorer noch in kranio-kaudaler Richtung

– Es entsteht i. d. R. keine Fehlstellung im Gelenk

Typ 2 (Tossy2)

– Totalruptur der akromioklavikulären Bänder

– Überdehnung der korakoklavikulären Bänder

– Bewegungsschmerzen, eventuell leichte Ruheschmerzen; es besteht ein mäßiger bis schwerer Lokalschmerz bei der Palpation und den passiven Bewegungstests

– Bei der passiven Funktionsuntersuchung zeigt sich eine übermäßige Beweglichkeit des ACG in anterior-posteriore Richtung. In einigen Fällen bestehen schon ein leichtes Klaviertastenphänomen und eine leichte Vergrößerung des AC-Gelenkspalts

– Erweiterung des AC-Gelenkspalte; eventuell kommt es zu einer leichteren vertikalen Verschiebung der Gelenkpartner, wodurch sich der korakoklavikuläre Abstand erweitert

Typ 3 (Tossy3)

– Ruptur der akromioklavikulären und korakoklavikulären Bänder

– Zusätzlicher Abriss von M. deltoideus und M. trapezius vom lateralen Teil der Klavikula

– Bewegungs- und Ruheschmerzen, der Arm wird in Schonhaltung in Adduktion am Körper gehalten und durch den gesunden Arm unterstützt. Die Palpation von AC-Gelenkspalt, lateral-kranialem Drittel der Klavikula sowie korakoklavikuärem Spalt ist schmerzhaft. Die aktiven Bewegungen, fast alle Widerstandstests und die passive Bewegungsprüfung sind durch die Schmerzen nur eingeschränkt möglich

– Es besteht eine deutliche ACG-Lücke, das Akromion steht gegenüber der Klavikula nach unten; klinisch kann die Klavikula mit dem Finger nach unten bis auf Höhe des Akromions wieder korrigiert werden (Klaviertastenphänomen)

– Luxation des ACG mit Verschiebung des Schulterkomplexes (Akromions) nach kaudal

– Der korakoklavikuläre Abstand ist um 25–100 % vergrößert. Bei Kindern unter 13 Jahren kommt es normalerweise zu einer Fraktur der Klavikula oder einer Pseudoluxation, wobei die intakten korakoklavikulären Bänder das Periost von der Klavikula abziehen

In seltenen Fällen kommt es zu einer Fraktur des Proc. coracoideus

Typ 4

– Ruptur der akromioklavikulären und korakoklavikulären Bänder

– Zusätzlicher Abriss von M. deltoideus und M. trapezius vom lateralen Teil der Klavikula

– Es besteht eine ähnliche Symptomatik wie bei Typ 3; die Tests sind jedoch noch schmerzhafter, und die Klavikula ist nach dorsal verschoben

– Luxation des ACG, die Klavikula luxiert dabei nach dorsal in oder durch den M. trapezius. Der korakoklavikuläre Abstand kann normal wirken, da die Klavikula nach dorsal verschoben ist

Typ 5

– Ruptur der akromioklavikulären und korakoklavikulären Bänder

– Zusätzlicher Abriss von M. deltoideus und M. trapezius vom lateralen Teil der Klavikula

– Es besteht eine ähnliche Symptomatik wie bei Typ 3, es kommt jedoch zu einer deutlichen Luxationsposition des Akromions gegenüber dem Schlüsselbein

– Schwere Luxation des AC-Gelenks; durch den reflektorischen Spasmus des M. trapezius kann die Klavikula weit nach oben gezogen werden. Der korakoklavikuläre Abstand kann bis zum 3-fachen des normalen Ausmaßes vergrößert sein

Typ 6

– Ruptur der akromioklavikulären und korakoklavikulären Bänder

– Zusätzlicher Abriss von M. deltoideus und M. trapezius vom lateralen Teil der Klavikula

– Durch den relativen Hochstand des Akromions erscheint der obere Teil der Schulter flacher. Zusätzlich kann es zu einer Fraktur der Klavikula, der oberen Rippen oder zu einer Plexusschädigung kommen. Meist besteht eine ausgeprägte Weichteilschwellung

– Luxation des ACG mit Kaudalverschiebung der Klavikula gegenüber dem Akromion und dem Proc. coracoideus. Verschmälerung des korakoklavikulären Gelenkspalts


Ursachen/Unfallmechanismen

In den meisten Fällen wird die Verletzung durch einen direkten Sturz auf die Schulter (das Akromion) mit adduziertem und innenrotiertem Arm bedingt (◘ Abb. 4.13a). Hierdurch kommt es zu einer Kaudalbewegung der Skapula, und nicht wie häufig beschrieben zu einer Luxation der Klavikula nach kranial. Aufgrund dessen sind Verbände, die ausschließlich die Klavikula nach kaudal korrigieren, in Frage zu stellen. Manchmal kann es zu einer Fraktur der Klavikula kommen, in seltenen Fällen auch zu einer Fraktur des Proc. coracoideus.


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Abb. 4.12a–f
Quick Check-Schulteruntersuchung. a Spurling Test rechts, b aktiver bilateraler ULTT 1, c bilaterale aktive Elevation über Abduktion, d Schürzengriff, e Nackengriff, f horizontale Adduktion


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Abb. 4.13a,
b ACG-Instabilität. a Traumatisch bedingte ACG-Instabilität durch direkten Sturz auf die Schulter (das Akromion) mit adduziertem und innenrotiertem Arm, b Typ 1–6 der ACG-Verletzung nach Rockwood (Rockwood 1996; mit freundlicher Genehmigung)

Weitere Verletzungsmechanismen sind: Sturz auf die ausgestreckte Hand, direkter Schlag auf die laterale Klavikula oder das Akromion. Eine direkte Gewalteinwirkung auf das laterale Ende der Klavikula kann zu einer Verletzung von Typ 4 oder 6 nach Rockwood führen (◘ Abb. 4.13b).


Leitsymptomatik und klinische Präsentation

Nahezu alle ACG-Affektionen führen zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Lokalschmerz über dem ACG-Gelenkspalt mit wenig Ausstrahlungstendenz. In schwereren Fällen können die Schmerzen allerdings in den M. trapezius pars descendens nach proximal ausstrahlen. Bei leichteren Traumen steht der Bewegungsschmerz im Vordergrund, bei schwereren Verletzungen kann ein Ruheschmerz vorhanden sein. Bei einer Verletzung reagiert in den meisten Fällen die gesamte Gelenkkapsel mit einer Entzündung; die Kapsulitis spiegelt sich dann auch im klinischen Befund wieder.


Spezifische Untersuchungen

Bei Verdacht auf eine traumatische ACG-Instabilität werden in Anamnese, Inspektion und Palpation weitere Punkte abgefragt und beachtet (s. unten). Auch bei der physischen Untersuchung kommen weitere Untersuchungstechniken zur Basisfunktionsprüfung hinzu, die spezifisch den Kapsel-Band-Apparat des ACG testen. Je nach Schweregrad der Verletzung ergeben die Tests mehr oder weniger ausgeprägte Befunde. In ▶ Übersicht 4.6 sind die typischen Positivbefunde aufgeführt.


Übersicht 4.6 Befunde bei Schultereckgelenksprengung (ACG-Instabilität)

Anamnese:



  • Typischer Unfallmechanismus


  • Schmerzen lokal über dem ACG (C4-Dermatom)


  • Schmerzen bei aktiven Armbewegungen und Liegen auf der Schulter

Basisfunktionsprüfung:



  • Die passive Schulterelevation ist endgradig schmerzhaft über dem ACG (◘ Abb. 4.5f)


  • Schmerzhafter Bogen zwischen 160–180°positiv


  • Die horizontale Adduktion ist schmerzhaft (◘ Abb. 4.7g)


  • Widerstand für die ADD ist meist schmerzhaft (◘ Abb. 4.7a)


  • Die aktiven Schultergürtelbewegungen können schmerzhaft sein

ACG-spezifische Untersuchung:



  • Traktion nach lateral-dorsal-kranial (◘ Abb. 4.14a)

    A271649_1_De_4_Fig14_HTML.gif


    Abb. 4.14a–c
    ACG-spezifische Untersuchung. a Traktion im ACG nach lateral-dorsal-kranial, b Translation des Akromions nach kranial, c Translation der Klavikula nach anterior und posterior


  • Akromion nach kranial (über den Humerus) bei fixierter Klavikula (◘ Abb. 4.14b)


  • Translation der Klavikula nach anterior und posterior (◘ Abb. 4.14c)


Anamnese

Spezifisch zu erfragen sind:





  • Unfallmechanismus,


  • Gewichtstraining,


  • Liegen/Schlafen auf der betroffenen oder gesunden Seite.


Inspektion

Zu beachten sind:





  • Schonhaltung des Arms in ADD/IR,


  • Unterstützung des betroffenen Arms durch den gesunden,


  • deutliches Erkennen des distalen Endes der Klavikula oder dorsale Verschiebung,


  • Schwellung über dem ACG.


Palpation

Zu palpieren sind:





  • ACG-Gelenkspalt und akromioklavikuläre Bänder,


  • korakoklavikulärer Spalt,


  • ventrale und kraniale Fläche von Akromion und Klavikula (Ansätze von M. trapezius und M. deltoideus).


ACG-spezifische Tests


Traktion im ACG (◘ Abb. 4.14a)

Eine Hand des Therapeuten liegt auf der Spina scapulae und schiebt das Schulterblatt nach lateral, leicht nach kranial und dorsal; die andere Hand fixiert die Klavikula.


Translation des Akromions nach kaudal/kranial (◘ Abb. 4.14b)

Test für die korakoklavikulären Bänder : Eine Hand des Therapeuten fixiert von kranial die Klavikula, mit dem Zeigefinger wird gleichzeitig der akromioklavikulären Gelenkspalt palpiert. Die andere Hand gibt Zug am Arm des Patienten nach kaudal, wodurch es zu einer sichtbaren Stufenbildung zwischen Klavikula und Akromion kommen kann. In diesem Fall wird das Akromion durch Schub über den Arm nach kranial in seine Normalstellung zurückgebracht.


Translation der Klavikula nach anterior/posterior (◘ Abb. 4.14c)

Test für die akromioklavikulären Bänder: Eine Hand des Therapeuten fixiert die Extremitas distalis der Klavikula zwischen Daumen und Zeigefinger, die andere das Akromion. Ausgeführt werden eine reine Translation nach ventrolateral/dorsomedial und eine physiologische konvexe (bogenförmige) Bewegung des Akromions um die Klavikula, um das Bewegungsausmaß zu erhöhen.


Komplikationen

Infolge eines Traumas kann es zu einer Degeneration des ACG (Arthrose), periartikulären Verkalkungen (heterotope Ossifikationen) und seltener auch Osteolysen kommen; Letztere werden häufig in Verbindung mit Gewichtstraining beobachtet.


Therapie: Allgemeine Vorgehensweise

Typ 1 und 2 werden grundsätzlich konservativ behandelt. Obwohl in der Literatur kontrovers diskutiert, hat auch bei Typ III die konservative Therapie vernünftige Erfolgschancen (Mouhsine et al. 2003).

Eine operative Versorgung der ACG-Sprengung ist grundsätzlich indiziert bei Typ 4/5/6; außerdem bei therapieresistenten und dauerhaft schmerzenden Sprengungen von Typ III, wenn sie eine Alltags- und Arbeitsfähigkeit nicht zulassen. Hierbei ist zu beachten, dass mittelfristige Ergebnisse keinen Unterschied zwischen OP und konservativer Nachbehandlung zeigen (Mazzocca et al. 2007).


Vorsicht

Patienten mit einer ACG-Sprengung sollten folgende Aktivitäten vermeiden:



  • Liegen auf der Schulter,


  • Tragen schwerer Gegenstände für ca. 8 Wochen,


  • schweres Tragen und Heben sowie Kontaktsport für 8–12 Wochen.


Therapie: Spezifische Behandlungsvorschläge

In ◘ Tab. 4.8 werden konservative Behandlungsvorschläge für die jeweiligen Heilungsphasen nach Schultereckgelenksprengung Typ 1–3 vorgestellt.



Tab. 4.8
Konservative Behandlung der Schultereckgelenksprengung Typ 1–3






















Phase

Behandlungsvorschläge

Tag 1–4

Akute Entzündungsphase

Schmerzlinderung:

– Schmerzlindernde Maßnahmen wie Medikamente, Kühlung, Elektrotherapie; bei entsprechender Schwellung kann eine manuelle Lymphdrainage indiziert sein

– Entlastung des ACG durch eine Armschlinge für 1–2 Wochen

– Auf aktive Bewegungen kann während der ersten Tage verzichtet werden; falls es zur Schmerzlinderung beiträgt, kann der Patient im schmerzfreien Bereich bewegen

Bei Typ 2 und 3 kann bei guter Verträglichkeit auch ein Tapeverband zur Stabilisation angelegt werden

Tag 5–21

Proliferationsphase

Belastungsfreie Bewegung (nach 1–2 Wochen sollte das Gelenk schmerzfrei sein):

–  Physikalische Therapie und Medikamente je nach Bedarf

–  Bei Typ 2 und 3 kann bei guter Verträglichkeit auch ein Tapeverband zur Stabilisation angelegt werden

–  Querfriktionen (QF) der Kapsel zur Analgesie (◘ Abb. 4.15a)

– Manuelle Gelenkmobilisation in Stufe 1–2 (◘ Abb. 4.15b)

– Aktive Bewegungen unterhalb der Schmerzgrenze und unterhalb 90°ab den 5. Tag

– Zunächst isometrisches Training, später dynamisch bahnendes Training der Schultergürtelmuskulatur im mittleren Bewegungsweg (◘ Abb. 4.15c)

– Isometrische und dynamische Stabilisation und Kräftigung der Schultergelenkbeweger mit kontrolliertem Schulterblatt unterhalb 90° Elevation (◘ Abb. 4.15d)

– Oszillierendes Training (◘ Abb. 4.15e)

Bei Typ 1 kann die aktive Beweglichkeit über 90° nach 2 Wochen freigegeben werden, bei Typ 2 und vor allem bei Typ 3 kann eine (partielle) Immobilisation des Gelenks für 1–2 bzw. 3–4 Wochen sinnvoll sein

Woche 4–12

Konsolidierungsphase

Zunehmende Belastung:

– Training von aktiven Komplexbewegungen mit Betonung des Schultergürtels (◘ Abb. 4.16a).

– Isometrische und dynamische Übungen im geschlossenen System (◘ Abb. 4.16b).

– Dynamisches Training mit Bändern und leichten Gewichten mit submaximaler Belastung (◘ Abb. 4.16c).

Bei Typ 2 und 3 sind aktive Bewegungen über 90° im schmerzfreien Bereich erlaubt

Ab Woche 13

Remodellierungsphase

Berufs- oder sportartspezifische Rehabilitation


Mobilisationstechniken für das ACG


Klavikula nach ventral (◘ Abb. 4.17a)



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Abb. 4.15a–e
Behandlung Tag 5–21: Proliferationsphase. a Querfriktionen der Kapsel, b manuelle Gelenkmobilisation Stufe 1–2, c Training der Schultergürtelmuskulatur im mittleren Bewegungsweg, dynamische Stabilisation und Kräftigung der Schultergelenkbeweger unterhalb 90° Elevation in Rückenlage, e oszillierendes Training



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Abb. 4.16a–c
Behandlung Woche 4–12: Konsolidierungsphase. a Training von aktiven Komplexbewegungen mit Betonung des Schultergürtels, b isometrische und dynamische Übungen im geschlossenen System unter Teilbelastung, c dynamisches Training mit Bändern und leichten Gewichten mit submaximaler Belastung



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Abb. 4.17a-c
Mobilisationstechniken des ACG. a Klavikula nach ventral, b Klavikula nach dorsal, c dynamisch-funktionelle Rotationsmobilisation im ACG während der Elevation

Der Patient liegt in Rückenlage; die Kalvikula wird von dorsal vom Therapeuten mit der Faust stabilisiert. Die andere Hand schiebt nun das Akromion gelenknah nach dorsal, wodurch die Klavikula relativ nach ventral mobilisiert wird.


Klavikula nach dorsal (◘ Abb. 4.17b)

Der Patient liegt in Rückenlage; das Schulterblatt ist, falls notwendig, mit einem Sandsack oder Keil unterlagert, damit es stabil aufliegt. Der Therapeut mobilisiert nun die Klavikula gelenknah nach dorsal.


Dynamisch-funktionelle Rotationsmobilisation im ACG während der Elevation (◘ Abb. 4.17c)

Der Patient sitzt und bewegt den Arm mit gebeugtem Ellenbogen in Elevation. Während der Bewegung fixiert der Therapeut die Klavikula mit Daumen und Zeigefinger, ohne dabei die Bewegung zu blockieren. Hierdurch kommt es zu einer Mobilisation zwischen den beiden Gelenkpartnern.


Nicht-traumatische ACG-Affektionen


Arthrose

Da die Degeneration im ACG relativ früh einsetzt, findet man häufig primäre Arthrosen, vor allem nach dem 40. Lebensjahr. Sekundäre Arthrosen treten nach Verletzungen wie z. B. nach einer Eckgelenksprengung auf und machen i. d. R. nur wenige Probleme. Sollte die Arthrose jedoch aktivieren, sind vorübergehende Schonung und schmerzlindernde Mobilisation des Gelenks angezeigt. Treten wiederholt Rezidive auf, ist eine intraartikuläre Injektion i. d. R. erfolgreich. Dasselbe gilt auch für andere Ursachen der Kapselentzündung, z. B. nach Trauma oder bei rheumatischen Erkrankungen.


Nicht-traumatische Arthritis, bedingt durch repetitive Aktivitäten

Auch durch eine hohe Wiederholungsfrequenz von Bewegungen kann es zu einer Kapselentzündung des Schultereckgelenks kommen. Diagnostisch scheint sich diese jedoch von der traumatischen Arthritis zu unterscheiden. Cadogan et al. (2013) beschreiben eine Kombination der folgenden Punkte als diagnostisch präzise:





  • Schmerzbeginn durch eine sich wiederholende Tätigkeit,


  • keine Schmerzen unterhalb des Ellenbogens,


  • geschwollenes oder verdicktes ACG,


  • keine typische Schmerzreproduktion während der passiven glenohumeralen Abduktion


  • oder Außenrotation in 90° Abduktion.

Je mehr dieser 5 Punkte positiv sind, desto eher kann eine nicht-traumatische Arthritis vermutet werden.


Osteolyse

In seltenen Fällen kann es nach einem Trauma oder einer Fraktur zu einer Osteolyse kommen, welche i. d. R. ein operatives Vorgehen erfordert. Osteolysen treten gehäuft im Kraftsport auf.


Pathologien des Sternoklavikulargelenks (SCG)


Das SCG ist die einzige artikuläre Verbindung des Schultergürtels mit dem Rumpf, und diese Verbindung ist vor allem abhängig von der Stabilität und Integrität des Kapsel-Band-Apparats. Die traumatisch bedingten Luxationen kommen am häufigsten vor (Hiramuro-Shoji et al. 2003). Wie beim ACG reagiert bei einer Verletzung die gesamte Gelenkkapsel mit einer Entzündung, und die Kapsulitis spiegelt sich dann im klinischen Befund wider. Luxationen oder Gelenkentzündungen können allerdings auch spontan, ohne Trauma vorkommen. Der Basisbefund bei einer SCG-Affektion ist in ▶ Übersicht 4.7 zusammengefasst.


Übersicht 4.7 Basisbefunde bei einer SCG-Affektion

Anamnese:



  • Typischer Unfallmechanismus


  • Schmerzen lokal über dem SCG mit Ausstrahlung in den M. trapezius und teilweise in den Nacken (C4-Dermatom, ◘ Abb. 4.1) (Hasset u. Barnsley 2001)


  • Schmerzen bei aktiven Armbewegungen und beim Liegen auf der Schulter

Basisfunktionsprüfung:



  • Die horizontale Adduktion schmerzhaft.


  • Die passiven Schulterbewegungen sind endgradig schmerzhaft.


  • Pro-/Retraktion, Elevation und Depression des Schultergürtels können schmerzhaft sein.

SCG-spezifische Untersuchung:



  • Die Palpation des SCG löst typische Schmerzen aus und zeigt evtl. eine Schwellung.


  • Die Schmerzen können z. T. durch Druck auf das Gelenk reproduziert werden.


  • Bei (Sub-)Luxation ist eine Stufe tastbar.


Traumatische Instabilitäten des SCG


Verletzungsmechanismen

Die Luxation nach hinten entsteht meist durch einen direkten Stoß auf die anteromediale Klavikula, z. B. durch einen Verkehrs- oder Sportunfall oder indirekt durch einen Stoß von hinten auf die Schulter. Häufiger ist jedoch die Luxation nach vorne, die vorwiegend indirekt durch einen Stoß oder Schlag von vorne auf die Schulter entsteht (Bontempo u. Mazzocca 2010).


Therapie

Die Therapie der traumatischen SCG-Instabilität bezieht sich auf die einzelnen Stadien und klinischen Befunde (◘ Tab. 4.9).



Tab. 4.9
Stadien, Befunde und Therapie bei SCG-Instabilität




























Stadium

Verletzungen/klinischer Befund

Therapie

Typ 1

– Überdehnung der sternoklavikulären Bänder; Gelenk ist stabil

– Lokalschmerz, evtl. leichte Schwellung

– Alle passiven Bewegungen der Schulter sind endgradig schmerzhaft, häufig ist v. a. die passive horizontale Adduktion deutlich schmerzhaft

– Kühlung, kurzfristige Ruhigstellung, dann Aktivitäten unterhalb der Schmerzgrenze

– Es kommt i. d. R. innerhalb von 14 Tagen zur Ausheilung

Typ 2

– Subluxation; Teilruptur der Kapselligamente, des Diskus articularis bzw. der kostoklavikulären Bänder

– Es kommt entweder zu einer ventralen oder dorsalen Subluxation. Der klinische Befund ist wie bei Typ 1, doch sind sämtliche Bewegungen der Schulter sehr schmerzhaft

– Die Inspektion lässt häufig schon erkennen, ob es sich um eine ventrale oder dorsale Luxation handelt

– Konservative Behandlung mit Eis, Ruhe, Armschlinge oder Rucksackverband

– Medikamente zur Schmerz- und Entzündungshemmung

– Nach 3 Wochen sollte sich der Schmerz deutlich gebessert haben, die normale Funktion kann dann langsam wieder aufgenommen werden

Typ 3a

Ventrale Luxation

– Es besteht eine deutlich erkennbare Luxation mit starken Akutschmerzen

– Der Patient zeigt eine Schonhaltung in Protraktion, und stützt den Arm vor dem Körper

– Die mediale Klavikula kann frei oder fixiert sein

– Reposition des Gelenks mithilfe einer Rolle zwischen den Schulterblättern; danach kann ein Rucksackverband angelegt werden

– Das aktive Armheben oder -strecken sollte für ca. 3 Wochen vermieden werden

– Selbst bei einer ungenügenden Reposition ist die Prognose günstig

Typ 3b

Dorsale Luxation

– Die dorsale Luxation ist i. d. R. schmerzhafter als die ventrale

– Bei der Palpation ist die Pars sternalis des SCG tastbar

– Durch Druck auf die A. carotis communis, die V. subclavia, die Trachea oder den Ösophagus können folgende Symptome auftreten:

1. venöse Stauung im Arm, bzw. im Nacken

2. erschwerte Atmung bis hin zum Erstickungsgefühl

3. Schluckbeschwerden

– Das Gelenk wird über Zug am abduzierten und extendierten Arm in Verlängerung der Klavikula reponiert; ein Sandsack kann zwischen die Schulterblätter gelegt werden

– Danach wird das Gelenk für 4–6 Wochen ruhiggestellt. Evtl. ist eine offene Reposition mit anschließender Drahtfixierung und Gips notwendig


Nicht-traumatische Affektionen des SCG

Nicht-traumatische Pathologien des SCG sind in ▶ Übersicht 4.8 aufgelistet (Hiramuro-Shoji et al. 2003). Davon abzugrenzen ist das Tietze-Syndrom , welches überwiegend die 1. und 2. Rippe am Übergang zum Sternum betrifft. Die klinische Präsentation der ersten drei Pathologien wird kurz beschrieben.


Übersicht 4.8 Nicht-traumatische Pathologien des SCG





  • Spontane Luxation


  • Rheumatische, traumtische oder infektiöse Arthritis


  • Arthrose


  • SC-Hyperostose


  • Osteitis condensans


  • Aseptische Nekrose der medialen Klavikula


Spontane (Sub-)Luxation





  • Frauen sind häufiger betroffen als Männer.


  • Betroffen sind überwiegend Jugendliche oder junge Erwachsene.


  • Kann ein- oder beidseitig auftreten.


  • Es besteht ein leichter Lokalschmerz.


  • Die (sichtbare) Luxation und Reposition ist durch aktive Armelevation oder Bewegungen in Abduktion-Außenrotation der Schulter auslösbar.


  • Eine physiotherapeutische Behandlung ist nicht indiziert.


Kapsulitis





  • Ist häufig ein Hinweis auf eine Systemerkrankung oder Infektion.


  • Es besteht ein Lokalschmerz, der jedoch weit ins Dermatom C4 ausstrahlen kann (◘ Abb. 4.1).


  • Klinisch zeigt sich ein Kapselmuster.


  • Die horizontale Adduktion ist schmerzhaft.


  • Therapeutisch steht die intraartikuläre Injektion oder eine Behandlung mit entzündungshemmenden Medikamenten an erster Stelle.


Arthrose





  • Die Ursache ist häufig unbekannt, in vielen Fällen ist die dominante Seite betroffen.


  • Es besteht eine sichtbare Schwellung mit klassischen Entzündungszeichen.


  • Der klinische Befund gleicht dem der Kapsulitis.


  • Die Retraktion des Schultergürtels ist schmerzhaft.


  • Im Röntgenbild sind eine Sklerose und eine ventrale Subluxation zu erkennen.


Aktive Stabilität des Schultergürtels


Der Schultergürtel bzw. das Schulterblatt stellt den stabilen Teil des Glenohumeralgelenks dar. Es bewegt sich in Protraktion und Retraktion entlang der Rippen, dreht bei Überkopftätigkeiten das Glenoid nach oben und verhindert somit eine Kompression der Rotatorenmanschette oder der Bursa subacromialis (Kibler 1998). Dieses koordinierte Zusammenspiel ist ein Schlüsselelement für eine effiziente Schulterfunktion (Kibler u. Sciascia 2010). Zwei Punkte sollten dafür erfüllt sein:





  • die unbeeinträchtigte Stabilität und Funktionsfähigkeit der Thorax-Schulterblatt-Verbindung mit dem SCG, der Klavikula und dem ACG und


  • die aktive Führung des Schultergürtels.

Die Hauptmuskeln für diese Funktion sind





  • der M. serratus anterior,


  • die Mm. rhomboidei und


  • der M. trapezius mit seinen drei Anteilen.

Infolge einer Problematik dieser Muskeln kann es zu Beschwerden im Schultergelenk-, Ellenbogen- oder Handbereich kommen; nur selten zeigen sich Beschwerden in Form von Schmerzen im Schultergürtel selbst. Daher ist es wichtig, diese aktiven Stabilisatoren zu prüfen.

Klinisch zeigt sich vor allem eine von der Norm abweichende Schulterblattführung, die als Skapuladyskinese bezeichnet wird. Eine von der statischen Norm abweichende Skapulaposition wird dagegen als veränderte Ruheposition der Skapula beschrieben.


Skapuladyskinese


Ursachen/Mechanismen

Eine Skapuladyskinese kann verschiedene Ursachen haben. So zeigen Untersuchungen, dass bei Patienten mit einem subakromialen Impingement die Schulterblattbewegungen bei aktiven Armbewegungen weniger koordiniert ablaufen als bei gesunden Probanden (Wadsworth u. Bullock-Saxton 1997). Es kommt zu





  • einer verminderten Aktivität des M. serratus anterior und des M. trapezius ascendens sowie


  • einer vermehrten Aktivität des M. trapezius descendens,

was zu einer vermehrten Protraktion und Innenrotation der Skapula führt. Dadurch wird deren medialer Rand sichtbar, und das Akromion steht stärker nach ventral-kaudal, was den subakromialen Raum verringert und somit das Impingement begünstigt (Ludewig u. Cook 2000) sowie indirekt die Kraft der Rotatorenmanschette reduziert. Untersuchungen bei Sportlern mit unterschiedlichen Pathologien (Schulterimpingement. Labrumläsionen, Einschränkungen der Innenrotation im GHG oder Instabilitäten) zeigen, dass sowohl die Koordination als auch die Kraft der Schulterblatt-stabilisierenden Muskulatur Defizite aufweist und sowohl die statische als auch dynamische Führung dementsprechend beeinträchtigt sein kann (Cools et al. 2003, 2005).


Wichtig

Grundsätzlich können nahezu alle Schmerzzustände im und um das Schultergelenk die muskuläre Steuerung und/oder die Bewegungen des Schultergürtels beeinflussen. Umgekehrt muss eine Skapuladyskinese jedoch keine Schulterpathologie nach sich ziehen (McClure et al. 2009, 2012). Denkbar ist, dass eine veränderte Skapulabewegung hilft, dem Schmerz aus dem Weg zu gehen.

Eine weitere Ursache für eine ungenügende Stabilität können Lähmungen wie beispielsweise die des N. thoracicus longus sein, die dann zum klassischen Bild der Scapula alata führt. In diesem Fall zeigt der Patient eine aktiv eingeschränkte, aber schmerzfreie Elevationsbewegung bei gleichzeitig auftretender Scapula alata.


Wichtig

Bei mangelnder aktiver Schulterblattstabilität muss als Erstes zwischen einer Scapula alata aufgrund einer Lähmung und einer funktionellen Scapula alata (Skapuladyskinese) unterschieden werden.


Klinische Präsentation

Ausgangspunkt sind in erster Linie Beschwerden an der Schulter oder weiter distal in der Bewegungskette. Die Leitsymptomatik für eine Beteiligung des Schultergürtels ergibt sich aus dem Sichtbefund und den Ergebnissen der spezifischen Tests.


Spezifische Untersuchungen

Die Untersuchung beinhaltet die Inspektion, Tests zur Veränderung der Symptomatik, Krafttests für wichtige Schulterblatt-stabilisierende Muskeln sowie Längentests für die Schlüsselstrukturen.


Statische Inspektion

Bei der statischen Beurteilung wird auf Seitenunterschiede geachtet, vor allem darauf, ob der mediale oder inferior-mediale Skapularand prominent wird. Zur besseren Beurteilung können diese Stellen markiert werden (◘ Abb. 4.18a).


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Abb. 4.18a,
b Untersuchung der Skapuladyskinese. a Statische Inspektion, b dynamische Inspektion


Dynamische Inspektion

Die dynamische Bewegungsprüfung erfordert, dass der Patient die Arme über Flexion und Abduktion in Elevation und wieder zurück bewegt, wobei die Elevation über Flexion die wichtigere Bewegung ist. Es können mehrere Wiederholungen nötig sein, um das Defizit sichtbar werden zu lassen; die exzentrische Phase ist dabei genauso wichtig wie die konzentrische Phase. Um die Belastung zu erhöhen und somit ein eventuelles Defizit deutlicher zu machen, kann der Patient die Bewegung mit einem Zusatzgewicht ausführen (◘ Abb. 4.18b).


Wichtig

Beurteilt werden



  • das Abheben des medialen oder inferior-medialen Skapularands vom Thorax (Winging ) und


  • der skapulohumerale Rhythmus.

Typische Anhaltspunkte für einen gestörten skapulohumeralen Rhythmus sind in ▶ Übersicht 4.9 aufgeführt.


Übersicht 4.9 Typische Anhaltspunkte für einen gestörten skapulohumeralen Rhythmus





  • Vermehrte Protraktion oder Elevation der Skapula zu Beginn der Elevationsbewegung


  • Ungleichmäßige oder ruckartige Schulterblattbewegung während der kon- oder exzentrischen Phase


  • Schnelle Abwärtsrotation der Skapula beim Senken des Arms

Eine Beurteilung der Elevationsbewegung separat für Flexion und Abduktion kann nach dem Schema in ▶ Übersicht 4.10 erfolgen (McClure et al. 2009).


Übersicht 4.10 Beurteilung der Elevationsbewegung separat für Flexion und Abduktion

Beurteilungskriterien:

1.

Normale Bewegung: Keine sichtbare Abweichung.

 

2.

Geringfügige Abweichungen: Anhaltspunkte für eine Bewegungsveränderung sind teilweise erkennbar, jedoch nicht konstant vorhanden.

 

3.

Offensichtliche Abweichungen: Klar erkennbare Bewegungsveränderungen in der Mehrzahl der durchgeführten Wiederholungen.

Interpretation:

 

1.

Normal: Beide Testbewegungen sind normal, oder eine Bewegung ist normal, und die andere zeigt nur geringfügige Abweichungen.

 

2.

Geringe Abweichung: Sowohl die Elevation über Abduktion als auch die Elevation über Flexion zeigt geringfügige Veränderungen.

 

3.

Offensichtliche Abweichung: Entweder die Elevation über Abduktion oder die Elevation über Flexion zeigt deutlich erkennbare Abweichungen.

 


Krafttests


Wichtig

Beurteilt wird, ob und inwieweit der mediale Skapularand vom Thorax abhebt.


M. serratus anterior (◘ Abb. 4.19a)



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Abb. 4.19a,
b Krafttest für a den M. serratus anterior, b die interskapuläre Muskulatur

Der Patient steht oder sitzt; er hält seinen Arm in ca. 100° Flexion. Der Therapeut steht seitlich hinter dem Patienten. Eine Hand legt er zum Testen auf den medialen Skapularand des Patienten, mit der anderen Hand übt er kräftigen senkrechten Druck nach unten auf den distalen Oberarm des Patienten aus. Der Patient soll diesem Druck entgegenhalten.

Entfernt sich bei der isometrischen Anspannung der mediale Skapularand vom Thorax, ohne dass im Schultergelenk eine Bewegung stattfindet, weist dies auf eine Insuffizienz des M. serratus anterior hin (McClure et al. 2012).


Interskapuläre Muskulatur (◘ Abb. 4.19b)

Der mittlere Anteil des M. trapezius und die interskapuläre Muskulatur lassen sich auf ähnliche Weise testen. Der Patient liegt in Bauchlage und hält seinen Arm in 90° Abduktion. Der Therapeut palpiert den medialen Rand der Skapula und übt gleichzeitig kräftigen Druck auf den gestreckten Arm aus.

Hebt sich der mediale Rand der Skapula ab, weist dies auf eine Schwäche der schulterblattstabilisierenden Muskeln hin.


Korrekturtests

Diese beiden Korrekturtests geben Hinweis, inwiefern die Schulterblattführung die Schultergelenksymptomatik beeinflusst.


Skapulakorrekturtest 1

Liegt bei einer Schultersymptomatik zusätzlichein positiver Schultergürtelbefund (Skapuladyskinese) vor, kann die Bewegung der Skapula entsprechend unterstützt werden. Zeigt der Patient z. B. einen schmerzhaften Bogen bei der aktiven Elevation (Impingementsymptomatik), können die Rotationsbewegung nach oben und Nach-hinten-Kippen der Skapula vom Therapeuten dahingehend unterstützt werden (◘ Abb. 4.20a), dass er während der aktiven Elevation den Angulus inferior der Skapula nach lateral-kranial und etwas nach ventral schiebt und gleichzeitig den oberen Teil der Skapula zusammen mit der Klavikula nach dorsal zieht. Reduziert sich dadurch die Impingementsymptomatik, müssen diese Bewegungskomponenten gezielt geübt werden.

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Abb. 4.20a–c
Tests zur Veränderung der Schultergelenksymptomatik. a Skapulakorrekturtest 1. Skapulakorrekturtest 2: b Test des M. supraspinatus über Jobe Test, c Jobe Test unter Schulterblattretraktion


Skapulakorrekturtest 2

Werden die Symptome durch eine Schwäche des M. supraspinatus aufgrund fehlender Skapulastabilität begünstigt oder einer Labrumläsion (Instabilität) verursacht, sieht das Vorgehen folgendermaßen aus: Der Therapeut testet zunächst den M. supraspinatus über den Jobe Test (◘ Abb. 4.20b) und den M. infraspinatus (◘ Abb. 4.7d) und bewertet Kraft und Schmerz. Anschließend bewegt der Patient sein Schulterblatt in Retraktion. Der Therapeut fixiert diese Position und drückt gleichzeitig mit seinem Unterarm auf den medialen Skapularand, um zusätzlich Stabilität zu geben. In dieser Position werden beide Muskeln erneut getestet; ◘ Abb. 4.20c zeigt den Jobe Test unter Schulterblattretraktion. Reduziert sich die Symptomatik, oder vermehrt sich die Kraft, ist der Test positiv (Kibler et al. 2006; Merola et al. 2010).


Therapie: Allgemeine Vorgehensweise

Da sich bei unzureichender Schultergürtelstabilität in den meisten Fällen um einen reflektorischen Mechanismus handelt, und dieser eine Auswirkung bzw. ein Symptom und nicht die Ursache ist, sollte zuvor oder zeitgleich die Ursache behandelt werden:





  • Strukturelle Läsionen wie Instabilitäten oder Labrumläsionen können eine erfolgreiche Therapie der Skapuladyskinese verhindern,


  • funktionelle Defizite wie fehlende Rumpfstabilität oder eine verkürzte posteriore Schulterkapsel ebenfalls.

Daher sollten neben dem Schultergürtel auch die Kraft- und Beweglichkeitsdefizite im Rumpf und in den unteren Extremitäten therapiert werden. Nachfolgend werden einige Übungsbeispiele für einen Behandlungsaufbau gegeben, die neben einer gezielten Kräftigung der Rumpfmuskulatur zum Einsatz kommen sollen.

Für den Schultergürtel ist es wichtig, die Retraktion und die Elevations-Rotations-Bewegung der Skapula zu optimieren. Eine Kombination aus Übungen in der geschlossenen und offenen Kette ist sinnvoll, das Training von Koordination und (Kraft-)Ausdauer steht im Vordergrund. In dieses Training sollen auch der Rumpf und die untere Extremität einbezogen werden.


Therapie: Behandlungsaufbau

Der Rehabilitationsaufbau beinhaltet 8 Schwerpunkte (▶ Übersicht 4.11).


Übersicht 4.11 Behandlungsaufbau bei unzureichender aktiver Schulterstabilität



1.

Training der Rumpfstabilität (einschl. der unteren Extremität)

 

2.

Behandlung der lokalen beitragenden Faktoren im Schultergürtelbereich

 

3.

Bewegungsanbahnung mit koordinativer Trennung von Schulterblatt- und Schultergelenkbewegungen

 

4.

Training des M. serratus anterior (SA)

 

Sep 25, 2016 | Posted by in PHYSICAL MEDICINE & REHABILITATION | Comments Off on Schulterkomplex

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